Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
Vom Netzwerk:
niederzufackeln und selbst im brennenden Bett der Herzogin zu sterben.
    ◈
    Am 9 . September hält Albert Einstein in Frauenfeld einen Vortrag vor der »Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft« und erklärt seine neuen Ansätze zur Gravitations- und Relativitätstheorie.
    ◈
    Am 9 . September gegen 19 Uhr stürzt der erste deutsche Marinezeppelin L 1 bei Helgoland ins Meer, nachdem er in eine Windhose geraten ist.
    ◈
    Am 9 . September, dem Tag, an dem Gerhart Fischer stirbt und die Sterne offenbar auf Katastrophe stehen, wird die 31 -jährige Virginia Woolf von zwei Neurologen untersucht, weil sie über eine »Unfähigkeit zu fühlen« klagt. Seit August, als sie ihren ersten Roman »The Voyage Out« abgegeben hat, hat sie so rapide an Gewicht verloren und ist so magersüchtig geworden, dass sie kaum noch transportfähig ist und von zwei Schwestern dauerhaft betreut werden muss. Die Untersuchung bei den Neurologen ist so demütigend, ihr Gefühl der Sinnlosigkeit so groß, dass sie sich wenige Stunden nach der Untersuchung, die Schwestern sind gerade in einer Pause, mit einer Überdosis der Schlaftablette Vernol umzubringen versucht. Ihr Mann Leonard rettet sie in letzter Minute, sie wird in der Klinik reanimiert.
    Zur Erholung schickt er sie dann nach Dalingridge Place, dem Landsitz ihres Stiefbruders George Duckworth. Was insofern absurd ist, als Virginia Woolfs Absturz offenbar auch auf den frühen, unbewältigten Missbrauch in Kindertagen durch ebenjenen Stiefbruder zurückzuführen ist. Aber ihr Mann Leonard scheint für diese Problematik blind zu sein, noch im September schreibt er über seinen Schwager, »als junger Mann soll er ein Adonis gewesen sein«. Virginia Woolf kann sich nicht anders wehren, als gesund zu werden. Sie isst wieder und kann deshalb Dalingridge Place im Herbst verlassen.
    ◈
    Am 7 . und 8 . September findet in München, im Hotel Bayerischer Hof, der »4. Kongreß der Psychoanalytischen Vereinigung« statt. Es ist das Zusammentreffen, vor dem sich Freud und C. G. Jung fürchten, seit sie im Frühjahr miteinander gebrochen haben. Die Atmosphäre ist gespannt und drückend, jeder ist auf der Hut. Am ersten Tag sind 87 Teilnehmer dabei, am zweiten nur noch 52 . Als C. G. Jung sich zur Wiederwahl als Präsident stellt, enthalten sich 22 Mitglieder der Stimme. Freud hat sich überreden lassen, am 7 . September einen kurzen Vortrag »Zum Problem der Neurosenwahl« zu halten. C. G. Jung spricht am nächsten Tag »Zur Frage der psychologischen Typen«. Die Atmosphäre, sagt Freud, ist »ermüdend und unerquicklich«, das Hauptereignis sind nicht die Vorträge, sondern ist die Sitzordnung. Der »Freud-Tisch« auf der einen Seite, der »Jung-Tisch« auf der anderen, dazwischen eisiges Schweigen. Freud, der Vater, und Jung, der Vatermörder, schauen sich kaum an – sie werden sich nach dem 8 . September 1913 niemals wiedersehen. Freud ist heilfroh, als plötzlich Lou Andreas-Salomé im Sitzungssaal auftaucht und auch noch Rainer Maria Rilke mitbringt, den Dichter, den er nur aus seinen Versen kennt. Freud flüchtet sich in die Arme der beiden, um der Stimmung des Kongresses zu entfliehen, kaum ist der letzte Beitrag zu Ende, ziehen sie zu dritt weiter, andauernd sprechend, scherzend sogar, und gehen gemeinsam essen. Lou schwebt über den Dingen, Rilke ist jenseits von Gut und Böse. Freud, der Übervater, der große Ausgräber des Unbewussten und des Verdrängten, hängt Rilke an den Lippen. Als Freuds Tochter Anna davon hört, schreibt sie ihrem Vater einen euphorischen Brief: »Hast Du in München wirklich den Dichter Rilke kennengelernt? Wieso? Und wie ist er?«.
    Tja, wie ist er? Am nächsten Tag, nach diesen Gesprächen über das Unbewusste, die Rilke und Freud in einem gemeinsamen Spaziergang vertieft hatten, geht also Rilke mit Lou, der Frau, die ihn in hohem Alter entjungferte und die nun wieder zu seinem Mutterersatz geworden ist, erst zu seiner Mutter Phia, die in München lebt, und dann weiter zu Clara und Ruth, seiner vergessenen Frau und seiner vergessenen Tochter, hilft ihnen ein wenig bei der Einrichtung ihrer neuen Wohnung in der Trogerstraße 50 . Anschließend steigen Lou Andreas-Salomé und Rilke in den Zug, um ins Gebirge zu fahren, und sie analyisert seine Träume. Sie sprechen mit tiefem Ernst über die symbolischen Unterschiede zwischen einem Phallus und einem Obelisken.
    ◈
    Hugo von Hofmannsthal liegt in seinem Hotelbett im Vier Jahreszeiten in

Weitere Kostenlose Bücher