1913
Freud führt die Pilzsucher an – und immer ist er es, der mit Adlerblick die schönsten Pilze an den verstecktesten Stellen findet. Er läuft dann ein paar Schritte, nimmt seinen Hut, wirft ihn über den Pilz und pfeift dann schrill durch seine Silberpfeife, so dass alle Suchenden aus dem Unterholz heranstürmen. Wenn dann die ganze Familie andächtig versammelt ist, lüpft der Vater endlich den Hut und lässt die Familie das erbeutete Stück bewundern. Meist ist es dann Anna, die geliebte Tochter, die den Pilz in ihren Korb legen darf.
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Als in Berlin gerade wieder einmal der Futurismus zur Bewegung der Stunde ausgerufen wird und Tommaso Marinetti im »Ersten Deutschen Herbstsalon« spricht, da veröffentlicht Dr. Alfred Döblin, großer Arzt, großer Autor und großer Freund Ernst Ludwig Kirchners und Else Lasker-Schülers, seinen »Brief an F. T. Marinetti«. Darin die herrlichen Worte: »Pflegen Sie Ihren Futurismus. Ich pflege meinen Döblinismus.« Döblin ist nicht bereit, sich der von Marinetti in seinem »Futuristischen Manifest« geforderten Zertrümmerung der Syntax als Grundlage einer neuen Literatur und Kunst zu fügen. Döblin fordert stattdessen von den Dichtern: Nicht zertrümmern, sondern dichter heran an das Leben.
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Wenn man als Autor dichter am Leben dran ist, kann es leicht passieren, dass es zu einem Auffahrunfall kommt. In den »Lübeckischen Nachrichten« erscheint am 28 . Oktober 1913 folgende Annonce: »Es sind mir im Laufe der letzten 12 Jahre durch die Herausgabe der ›Buddenbrocks‹, verfasst von meinem Neffen, Herrn Thomas Mann in München, dermaßen viele Unannehmlichkeiten erwachsen, die von den traurigsten Konsequenzen für mich waren, zu welchen jetzt noch die Herausgabe des Albertschen Buches ›Thomas Mann und seine Pflicht‹ tritt. Ich sehe mich deshalb veranlasst, mich an das lesende Publikum Lübecks zu wenden und dasselbe zu bitten, das oben erwähnte Buch gebührend einzuschätzen. Wenn der Verfasser der ›Buddenbrocks‹ in karikierender Weise seine allernächsten Verwandten in den Schmutz zieht und deren Lebensschicksale eklatant preisgibt, so wird jeder rechtdenkende Mensch finden, dass dieses verwerflich ist. Ein trauriger Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. Friedrich Mann, Hamburg.« So also der inzwischen 67 -jährige Onkel Friedel, der in den »Buddenbrooks« Christian heißt. Thomas Mann reagiert sehr lustig darauf in einem Brief an seinen Bruder: »Wird er am Ende nicht mehr genug auf Christian B. hin angeredet und wollte sich in Erinnerung bringen? Es ist schade um ihn, wahrhaftig. Mein Christian Buddenbrook hätte diese alberne Annonce nicht geschrieben.«
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Nach 15 -jähriger Bauzeit wird am 18 . Oktober zum hundertjährigen Jubiläum der Schlacht gegen Napoleon in Leipzig das bombastische »Völkerschlachtdenkmal« eingeweiht. Kaiser Wilhelm II . würdigt die Kampfkraft des deutschen Volkes. Das einundneunzig Meter hohe, sechs Millionen Reichsmark teure Monument, das daran erinnert, wie die Preußen gemeinsam mit Russland und Österreich die Franzosen schlugen, ist komplett mit Spenden und aus Lotteriemitteln finanziert worden. Der dunkle Stein ist ein Granitporphyr, der in Baucha bei Leipzig gebrochen worden ist. Für den Bau wurden 26 500 Granitwerkstücke und 120 000 Kubikmeter Beton verwendet. An der Einweihung des Denkmals von Clemens Thieme nehmen neben dem deutschen Kaiser und dem sächsischen König auch alle Fürsten der deutschen Staaten und Vertreter Österreichs, Russlands und Schwedens teil. Die Einweihung wird zu einer nationalen, martialischen Jubelfeier mit einer großen Parade. Würdenträger der drei Siegerländer legen Kränze am Fuß des Monuments ab. Anschließend gibt es im Gewandhaus ein feierliches Diner für 450 Gäste. Es wurde kein Toast auf den Frieden ausgebracht, sondern nur auf die unerschütterliche Waffenbrüderschaft zwischen Preußen und Österreich-Ungarn.
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Die wird nur fünf Tage lang, vom 23 . Oktober an, erst einmal an Fasanen erprobt. Franz Ferdinand, der österreichische Thronfolger, der in Leipzig bei der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals gewesen ist, hat durch eine geschickte diplomatische Initiative gerade erreicht, dass sich die Serben im zweiten Balkankrieg aus Albanien zurückziehen. Das erleichtert und imponiert dem deutschen Kaiser Wilhelm so sehr, dass er den Thronfolger in seinem Schloss in Konopischt besucht. Die beiden Herren verstehen sich prächtig. Franz Ferdinand
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