1913
Mark zuschießen, um die Kosten für Miete und Transport zu decken.
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Wie Rilke und Freud ist auch Arthur Schnitzler an diesen ersten Septembertagen in München, er ist im Hotel Continental abgestiegen und wohnt den Proben zur Aufführung seines Stückes »Liebelei« bei. Wie es der schöne Zufall will, spielt seine ehemalige Geliebte Marie, genannt Mizi, eine weibliche Hauptrolle. Diese Marie Glümer, im Tagebuch »Mz«, ist eine ehemalige Patientin und eines jener »süßen Mäderln« aus Wien, die Schnitzler zeitlebens liebte, die ihr schlechtes Gewissen gut im Griff hatten, mit denen man mal zu Abend essen, mal einen Ausflug machen musste, mehr auch nicht, und die sich gut ins bürgerliche Leben ihrer Liebhaber einpassen ließen. Nun aber in München, wo er mit Olga, seiner Frau, ist, wird die Sache etwas unübersichtlich.
Am 9 . September dann wird er eingeladen in die Leopoldstraße zu einem, der die Frauen so sehr liebt wie er: »Liesl geleitet uns zu Heinrich Mann, der mit seiner Geliebten, einer Prager Jüdin, hier wohnt. Er stellt sie als seine Frau vor und besteht sehr darauf, dass sie so angesprochen und behandelt wird. Herzog und Frl. Morena sind auch da. Caffee auf der Terrasse. Leidliches Gespräch. Ich kann Frau Mann nicht so schlimm finden als sie von den andern dargestellt wurde. – Alle zusammen an den See.« Seine Stimmung? »Stimmungslos«.
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In Düsseldorf wartet der Jurist Carl Schmitt täglich auf seine Entdeckung. Abends geht er mit seiner Geliebten Cari ins Bett und ist, wie er seinem Tagebuch anvertraut, »herrlich unartig«; »nachts nettes Fingern«.
So geht es Tag für Tag, im Gericht ist nichts zu tun, und die Verleger lehnen sein Buch »Der Wert des Staates« ab, das Schmitts großes anti-individualistisches Programm enthält. Doch dann am 20 . September ist es soweit, der Verleger Mohr will Schmitts Buch drucken, und der Autor wächst um einen Meter: »Herrliches Herbstwetter. Ich fühle mich wieder als ein mit heimlicher Überlegenheit unerkannt durch die Straßen schlendernder großer Mann.«
Das hält leider nicht lange. Am 30 . September notiert er nach einem Konzertbesuch: »Die Musik wühlte alle meine Komplexe auf. Ich wollte mich umbringen. Was hat es für einen Zweck? Es geht niemand was an, ich gehe niemand was an, mich geht niemand was an. Wäre nur mein Buch erst da.« Dann, so die wunderbar naive Hoffnung, wird alles gut. Doch dieses Gesetz kann auch der Jurist Dr. Carl Schmitt nicht begründen.
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Am 25 . September 1913 unterschreibt Charlie Chaplin seinen ersten Filmvertrag mit den Keystone Studios. Er erhält 150 Dollar pro Woche während der Dreharbeiten für seinen Debütfilm »Ein Mann schlägt sich durch«.
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Walther Rathenau veröffentlicht sein Buch »Zur Mechanik des Geistes«, in dem er – Aufsichtsratsvorsitzender der AEG und eine der zentralen Figuren der deutschen Wirtschaft überhaupt – eindringlich vor den Gefahren der Technik und Mechanisierung für die Reinheit und das »Reich der Seele« warnt. Er widmet das Buch »dem jungen Geschlecht«.
OKTOBER
Das ist der Monat, in dem Thomas Mann seine Vergangenheit einholt. In Hellerau bei Dresden trifft sich die Avantgarde beim Mysterienspiel. Die deutsche Jugend wandert auf den Meißner, der sich seitdem »Hoher Meißner« nennt. Emil Nolde verlässt Berlin, um mit einer Expedition in die Südsee zu reisen. August Macke findet das Paradies in der Schweiz, am sonnigen Thuner See. Große Frage: Darf man sich von Franz Werfels Gesicht abgestoßen fühlen? Und: Wieviel Avantgarde verträgt Berlin? Ludwig Meidner malt aus heiterem Himmel ein Schlachtfeld und nennt es »Apokalyptische Landschaft«. Kaiser Wilhelm II . weiht das Völkerschlachtdenkmal ein. Freud nimmt seinen Hut – und wirft damit nach Pilzen.
Auf dem 753 Meter hohen »Meißner« im Kaufunger Wald in Nordhessen findet vom 11 . bis 13 . Oktober das legendäre Treffen lebensreformerischer und jugendbewegter Gruppen statt. Seit dem Treffen nennt sich der Berg »Hoher Meißner«. Das deutsche Woodstock der letzten Generation, die im 19 . Jahrhundert geboren wurde, ist ein Versuch, die Wandervogel-Bewegung und die freideutschen Jugendbünde unter freiem Himmel zusammenzuführen. Es ist ein Protest gegen die pompöse Deutschtümelei bei der parallelen Feier für das Leipziger Völkerschlachtdenkmal. Es kommt zu einem riesigen Zeltlager auf der Hausener Hute mit zweitausend Teilnehmern. Man wandert durch die Wälder,
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