1913
singt, debattiert und hört verschiedenen Rednern zu. Ludwig Klages etwa, der zu den Jugendlichen spricht und ihnen erklärt, dass die Moderne die größte Gefahr sei. Da sie Deutschlands Wälder bedrohe und damit die Essenz des deutschen Lebensprinzips. Klages warnt vor der Technik, die die Natur zerstöre, und plädiert für eine Rückkehr zum natürlichen Leben. »Mensch und Erde« heißt seine flammende Rede, die vor dem Fortschritt warnte und vor der Umweltzerstörung. Der Lebensreformer Fidus mit seinen erdverbundenen, himmelsstürmenden Aquarellen schafft mit seinem pathetischen Werk »Hohe Wacht« in der »Festschrift« das Logo des Treffens auf dem »Hohen Meißner«: Junge, nackte Männer, mit dem Schwert gegürtet, blicken stolz empor. Vor diesen Männern findet auch der erste öffentliche Auftritt des jungen Studenten Walter Benjamin statt, der gerade von der Universität Freiburg an die in Berlin gewechselt ist und mit seinen Freunden auf den Berg gestiegen kommt. Er erklärt als einer der Redner auf dem Treffen, dass erst wenn Antisemitismus und Chauvinismus keine Rolle mehr spielten, von einer wirklich freideutschen Jugend gesprochen werden könne. Und der Reformpädagoge Gustav Wyneken, Mitbegründer der Freien Schule Wickersdorf und Lehrer Walter Benjamins, appelliert an die etwa dreitausend Jugendlichen: »Soll es dahin kommen, dass man euch nur gewisse Worte zurufen braucht: Deutschland, national, um euren Beifall und Heilruf zu vernehmen? Soll von euch jeder zudringliche Schwätzer den Zoll der Begeisterung eintreiben können, weil er sich die richtige Phrasenuniform angezogen hat? Weil ich die leuchtenden Täler unseres Vaterlandes sehe, so kann ich nicht anders als wünschen: Möge nie der Tag erscheinen, wo des Krieges Horden sie durchtoben. Und möge auch nie der Tag erscheinen, wo wir gezwungen sind, den Krieg in die Täler eines fremden Volkes zu tragen.« Die Abschlusserklärung, die »Meißnerformel«, auf die sich alle Teilnehmer einschworen, ist schon weit weniger pathetisch. Darin heißt es, dass die »Freideutsche Jugend mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestaltet«. Man beschließt, dass alle »Veranstaltungen der Freideutschen Jugend alkohol- und nikotinfrei« sind. Es ist kein Wunder, dass daraus keine Revolution wird. Alkohol- und nikotinfrei! Ähnlich hatte es Herbert Eulenberg in seinem gereimten Geleitwort formuliert: »Ich grüße die Jugend, die nicht mehr säuft / die Deutschland durchdenkt und Deutschland durchläuft.« Als alle von dem Berg wieder in die Täler des Vaterlandes zurückgekehrt sind, setzt schnell Ernüchterung ein. So auch bei Walter Benjamin, der unter dem Pseudonym »Ador« in Fritz Pfemferts Berliner Zeitschrift »Die Aktion« folgendes Fazit zieht: »Wanderungen, Festgewänder, Volkstänze sind nichts Letztes und – im Jahre 1913 – noch nichts Geistiges. Diese Jugend hat den Feind, den geborenen, den sie hassen muss, noch nicht gefunden.« Benjamin vermisst den Aufstand gegen die Väter der Gründerzeitgeneration. Er vermisst den Vatermord. Er schreibt diese schönen Zeilen übrigens, die Benjamin-Jünger mögen verzeihen, aus dem Haus seiner Eltern in der Delbrückstraße 23 in Berlin, in die der Student nach seinem Semester in Freiburg wieder eingezogen ist.
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Aber dafür, dass Benjamin aus Freiburg wieder nach Berlin zurückgekehrt ist: vollstes Verständnis. Oder, wie es Else Lasker-Schüler 1913 sagte: »Darum kehrt der Künstler doch immer wieder zurück nach Berlin, hier ist die Uhr der Kunst, die nicht nach noch vor geht.«
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Nach den nassen Tagen sorgt der Sonnenschein jetzt dafür, dass überall die Pilze aus dem Boden sprießen. Sigmund Freud, sichtlich erleichtert, dass er das Treffen der Psychoanalytiker mit Würde und Anstand (und mit einer schönen Abstimmungsniederlage für C. G. Jung) über die Bühne gebracht hat, geht am Sonntag mit seiner Familie in die Schwammerln. Alle haben die Weidenkörbchen dabei, die sie mit karierten Decken ausgelegt haben, und richten den Blick fest auf den Moosboden des Wienerwaldes. Manchmal fahren sie auch auf den Semmering, wo alle darüber tuschelten, dass hier Mahlers Witwe Alma ein Liebesnest baue für sich und den wüsten Maler Kokoschka. Aber Freud und seine Familie zieht es in die Wälder, nicht zu den Sommerhäusern. Die Kinder schlüpfen in ihre Dirndl und kurzen Hosen, Freud trägt seine Knielederhosen, die grüne Joppe und den Hut mit dem Gamsbart, und dann geht die Suche los.
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