1913
Überfahrt schickt er Russell einen Brief mit zentralen Fragen, doch er vergisst ihn an Bord. Am 29 . Oktober schreibt er noch einmal an Russell: »Haben Sie meinen Brief bekommen? Ich habe den Brief im Speisesaal des Bootes gelassen und sollte an Sie geschickt werden, aber offenbar vergessen?«
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Carl Schmitt, der glaubt glücklich zu werden, wenn sein Buch »Der Wert des Staates« gedruckt wird, schreibt, obwohl sein Buch gedruckt wird, voller Unglück in sein Tagebuch: »Von niemandem bekomme ich einen Brief.« Noch schlimmer: Er hat Schnupfen. Er weiß nicht, ob er das überleben wird, am 2. Oktober heißt es: »Ekelhaft dieser Katarrh; o Gott, und einmal muß man sterben.«
Vorher will Schmitt noch heiraten, und zwar seine geliebte Cari, der er sein erstes Buch gewidmet hat. Selbst der Geheimrat Hugo am Zehnhoff, Schmitts väterliche Figur in diesen Monaten, der ihm immer wieder kleine juristische Mandate zuschustert, stimmt zu. Zehnhoff ist das zweite Zentralgestirn des Jahres 1913 , Schmitt ist ihm in dauernder Furcht und Zuneigung erlegen, barmt um dessen Wohlwollen, trinkt und raucht mit ihm bis spät in die Nacht. Zehnhoff warnt Schmitt noch vor dem »Tingeltangel«, den Cari ausstrahle, aber dann verlangt er, dass sie wenigstens katholisch werde, damit in Maria Laach geheiratet werden kann.
Cari kauft sich einen Hut und Carl kauft einen Ring, dann verloben sie sich. Dann verliert Cari plötzlich ihren Pass, was ihre Heirat unmöglich und Carl wütend macht. Aber Cari bleibt seltsamerweise gelassen. Da sie nun nicht als Eheleute in die neue Wohnung am Konservatorium einziehen können und außerdem das Geld weiter sehr knapp ist, da Carl noch keine feste Anstellung hat, soll Cari zu Schmitts Eltern nach Plettenberg ziehen, bis sie heiraten und zusammenleben können. Gemeinsam fahren sie mit dem Zug dorthin, dann muss Schmitt zurück nach Düsseldorf, in der Gewissheit, in welch schrecklicher Umgebung er seine Geliebte zwischengelagert hat: »Sie ist in Plettenberg in der Umgebung der abscheulichen und bösen Mutter und der verzogenen kleinen Anna.« Bald, schreibt Schmitt, will er seine Cari wieder aus der Familienhölle befreien und zum Altar führen.
Er hat Cari 1912 als spanische Tänzerin in einem Varieté-Theater kennengelernt. Und ist ihr völlig verfallen. Sie sagte, sie heiße Pabla Carita Maria Isabella von Dorotic. Ihr Pass wird nie wieder auftauchen. Aus gutem Grund. Später dann, beim Scheidungsprozess, wird er erfahren, dass seine Frau keine adlige Spanierin war, sondern eine unehelich geborene Münchnerin, Pauline Schachner mit Namen.
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Und doch, es gibt einen Ort voll Sonne und Glück in diesem Oktober 1913 . August und Elisabeth Macke und ihre zwei Söhne beziehen das Haus Rosengarten in Hilterfingen, direkt am Thunersee gelegen, den Blick aufs Wasser und die hohen, schneebedeckten Gipfel der Stockhornkette am Horizont. Vorne läuft eine Wiese sanft ab zum Ufer, wo die Mackes in der rosenumrankten Veranda um vier ihren frisch aufgebrühten Kaffee trinken.
Zum ersten Mal hatte August Macke keine alten Bilder mitgenommen, er will neu anfangen hier in der Schweiz. Er ist noch etwas erschöpft von der Hängung des »Ersten Deutschen Herbstsalons«, verbittert auch über den Misserfolg und die schlechten Kritiken. Aber hier unten, am fernen Thunersee und unter der warmen Oktobersonne, hellt sich sein Gemüt schon nach wenigen Tagen wieder völlig auf. Er kauft Malsachen und legt los – in einem leidenschaftlichen Furor, wie er ihn in seinem Werk noch nie erlebt hatte, schafft er in den vier Oktoberwochen am Thunersee die wichtigsten Werke seines Œuvres. Immer wieder zieht es ihn an die Seepromenade, immer wieder zeichnet und malt er die eleganten Spaziergängerinnen, die Männer mit Hut, das Licht, das warm und leuchtend durch die Alleebäume fällt. Und dahinter, auf dem Blau des Sees, dann und wann ein weißes Boot. »Sonniger Weg« etwa, gleich Anfang Oktober entstanden, da glüht der Baumstamm so wie das Kleid der Frau, sie blickt hinein in das tiefe dunkle Blau des Wassers, man sieht den Himmel nicht vor lauter hellgrün und gelb aufblitzendem Laub. Am Rande spielen Kinder. Hier, am Thunersee, malt August Macke seine aktuellen Versionen des Paradieses.
Die Mackes haben ein kleines Boot, Louis Moilliet und seine Frau Hélène kommen zu Besuch, der Malerfreund, mit dem er bald zur legendären Tunis-Reise aufbrechen wird, sie machen jetzt erst einmal gemeinsam eine Thuner-Reise,
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