1913
geglückt. Jetzt schlägt er sich vormittags als Englischlehrer durch – und nachmittags gibt er Privatunterricht, unter anderem dem späteren Schriftsteller Italo Svevo. Und abends sprach er über Hamlet. Die Lokalzeitung »Piccolo della Sera« ist begeistert: Die Vorlesung habe mit ihren »dichten, jedoch klaren Gedanken, mit einer Form, die zugleich erhaben und schlicht war, mit ihrem Witz und ihrer Lebhaftigkeit von echter Brillanz« gezeugt.
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»Die Dich streift/stürzt ab«, so hatte die weise, wilde Else Lasker-Schüler gedichtet, als sie Gottfried Benn kennenlernte. Jetzt hat er sie verlassen. Und sie liegt leidend darnieder, hat unerträgliche Unterleibsschmerzen. Dr. Alfred Döblin, der gerade noch Ernst Ludwig Kirchner für ein Porträt Modell gesessen hat, fährt hinaus in den Grunewald und gibt ihr Morphiumspritzen. Er weiß ihr nicht mehr anders zu helfen.
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Am 13 . November erscheint »Eine Liebe von Swann«, der erste Teil von Marcel Prousts Romanwerk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Nachdem das Buch außer von den Verlagen Fasquelle und Oldenbourg und der »Nouvelle Revue Française« auch von André Gide, dem damaligen Lektor im Verlag Gallimard, abgelehnt worden ist, hat Proust das Buch bei Grasset auf eigene Kosten verlegt. Doch kaum hält er das erste Exemplar in der Hand, trennt sich sein Chauffeur und Geliebter Alfred Agostinelli von ihm. Alle anderen aber verfallen dem Autor. Rilke liest das Buch schon ein paar Tage nach Erscheinen. Es beginnt mit den goldenen Worten: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen« – und damit traf Proust den Nerv einer übermüdeten Avantgarde, die sich von Kafka bis Joyce, von Musil bis Thomas Mann in ihren Tagebüchern rühmte, wenn es ihr gelungen war, einmal vor Mitternacht zu Bett zu gehen. Früh zu Bett gehen – das erschien den immer unausgeschlafenen Vorreitern der Moderne als das mutigste Ankämpfen gegen Depression, Trinken, sinnlose Ablenkung und die voranstürmende Zeit.
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Oswald Spengler schreibt in München fieberhaft weiter an seinem Mammutwerk »Der Untergang des Abendlandes«. Der erste Hauptteil ist schon fertig. Spenglers seelischer Zustand: ähnlich dem des Abendlandes. Sein Tagebuch: eine Tragödie. Er notiert: »Ich habe nie einen Monat ohne Selbstmordgedanken gehabt.« Aber immerhin: »Innerlich habe ich mehr erlebt als vielleicht irgend ein Mensch meiner Zeit.«
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Alma Mahler hatte ihre Haare immer so hochgebunden, dass sie sich im Gespräch oder beim Tanzen leicht lösten. Sie verstand es perfekt, die dunklen Strähnen zum idealen Zeitpunkt ins Gesicht fallen zu lassen, so dass die Männer die Besinnung verloren. Heute gönnt sie endlich wieder einmal Kokoschka diese Freude. Denn er hat das Doppelporträt der beiden abgeschlossen, jenes Bild, das seit Jahresbeginn auf seiner Staffelei stand und das Alma und ihn in stürmischer See zeigt. Er hat es erst »Tristan und Isolde« nennen wollen, nach der Wagner-Oper, aus der sie ihm bei ihrer ersten Begegnung vorsang. Doch dann gab Georg Trakl dem Bild den Titel »Die Windsbraut« – und der ist es, der letztlich hängenblieb. An seinen Galeristen Herwarth Walden in Berlin meldet der in tiefen Schulden steckende Kokoschka im November: »In meinem Atelier ist eine große Arbeit, an der ich seit dem vorigen Jänner gearbeitet habe, ›Tristan und Isolde‹, 2 ½ mal 3 ½, 10 000 Kronen, seit einigen Tagen fertig. Ich muß darauf vor dem 1 . Jänner eine Bürgschaft von 10 000 Kr erhalten, weil meine Schwester mit einem Manne verlobt ist und im Februar heiratet. Das Bild ist ein Ereignis, wenn es öffentlich wird, meine stärkste und größte Arbeit, das Meisterstück aller expressionistischen Bestrebungen: Erwerben Sie es für sich? Damit könnten Sie einen Welterfolg machen.«
Bescheidenheit ist noch nie Oskar Kokoschkas Stärke gewesen. Doch das Überraschende: Alma Mahler erkennt in der ›Windsbraut‹ tatsächlich das lang geforderte Meisterwerk Kokoschkas. »In seinem großangelegten Bild ›Die Windsbraut‹ hat er mich gemalt, wie ich in Sturm und höchstem Wellengang vertrauensvoll an ihn angeschmiegt liege – alle Hilfe von ihm erwartend, der, tyrannischen Antlitzes, energieausstrahlend die Wellen beruhigt.« Das gefiel ihr, so sah sie sich: voller Energie, ruhend, die Wellen der Welt beruhigt. Alma, die Herrscherin der Welt. So hatte sie sich das Meisterwerk ihres Geliebten vorgestellt. Als blinde Huldigung. Dass sie ihm einst versprach, ihn
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