1913
hinaus auf den See, legen an einer kleinen Insel an, machen ein Feuerchen und Hélène kocht einen feinen arabischen Kaffee in dem tunesischen Kupferkännchen, das sie mitgebracht hat.
Auch an den Wochentagen ist es ein Leben in großer Idylle. Morgens schiebt man die grünen Fensterläden auf und blickt in das flirrende Blau des Altweibersommers.
Es ist so heiß, dass den ganzen Oktober über draußen gegessen wird, erst ab dem Nachmittag, wenn langsam die Kühle vom See her über die Wiese kriecht, zieht Macke seinen geliebten grobgestrickten Rollkragenpullover an und raucht seine erste Pfeife. Dann tollt er mit den beiden Jungen Walter und Wolfgang durch den Garten.
August Macke hat sich ganz oben sein Reich eingerichtet, ein Zimmer mit Balkon und weiter Aussicht über den See, wo er malt, was er auf den Promenaden aufgeschnappt hat und in den Hutläden, den Auslagen. Elisabeth Macke erzählte später, wie ihr Mann mittags die Bilder aus dem Atelier unter dem Dach in den Garten brachte, »der in leuchtenden Herbstfarben von der Sonne durchflutet war, und stellte sie mitten hinein in dieses Glühen: Sie verblassten keineswegs, sie hatten ihr eigenes Leuchten. Dann frug er mich: ›Was meinst Du, ist das nun was oder ist das Kitsch, ich kann es wirklich nicht sagen?‹« Elisabeth wusste, was es ist. Und wir wissen es auch. Es sind Bilder von solch echter, bezwingender Schönheit, dass man sie manchmal nur ertragen kann, wenn man versucht, sie als Kitsch zu denunzieren.
NOVEMBER
Adolf Loos sagt, dass das Ornament ein Verbrechen sei, und baut Häuser und Schneidersalons voll Klarheit. Alles ist aus zwischen Else Lasker-Schüler und Dr. Gottfried Benn – sie ist verzweifelt, woraufhin ihr Dr. Alfred Döblin, der gerade Ernst Ludwig Kirchner Modell sitzt, Morphium spritzt. Prousts »Eine Liebe von Swann«, der erste Band von »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, erscheint, den Rilke sofort liest. Kafka geht ins Kino und weint. Prada eröffnet in Mailand seine erste Boutique. Ernst Jünger, 18 Jahre alt, packt seine Sachen und geht zur Fremdenlegion nach Afrika. Das Wetter in Deutschland ist ungemütlich, aber Bertolt Brecht findet: Schnupfen kann jeder haben.
Am 7 . November wird Albert Camus geboren. Er wird später das Drama »Die Besessenen« schreiben.
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Das Lead Magazin des Jahres: In Wien erscheint – was für ein Zufall – am 7 . November die erste Ausgabe der Zeitschrift »Die Besessenen«. Auf dem Titel: ein Selbstporträt von Egon Schiele. Untertitel der Zeitschrift: »Ein Blatt der Leidenschaften«.
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Am 7 . November malt Adolf Hitler ein Aquarell der Münchner Theatinerkirche und verkauft es an einen Trödelhändler auf dem Viktualienmarkt.
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Die lebenslustige Gräfin von Schwerin-Löwitz, Gattin des Landtagspräsidenten, lädt Mitte November zum Tango-Tee in den Preußischen Landtag. Auf dem Parkett: Tänzerinnen engumschlungen mit Amtsträgern und hohen Militärs. Daraufhin greift Kaiser Wilhelm II . durch, der den Tango für vulgär hält. Am 20 . November ergeht ein kaiserlicher Erlass, wonach es Offizieren in Uniform künftig verboten ist, den Tango zu tanzen.
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Von der Mona Lisa noch immer keine Spur.
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Für Adolf Loos geht langsam sein größtes Jahr zu Ende. »Ornament und Verbrechen« hatte er seinen wütenden Aufschrei genannt gegen den drohenden Erstickungstod im Zuckerbäckerstil der Wiener Ringstraße. Und jetzt, 1913 , sind es immer mehr geworden, die ihre Pläne und Seelen und Läden und Häuser durch Loos’ freien Geist und klaren Blick reinigen lassen wollen. Sein »Haus Scheu« in der Larochegasse 3 wird ebenso fertig wie sein »Haus Horner« in der Nothartgasse 7 . Und zwei Innenräume, die er in seiner unnachahmlich prächtigen minimalistischen, dennoch gediegenen Eleganz ausgestattet hat, feiern ebenfalls Eröffnung: Das Café Capua in der Johannesgasse und der Schneidersalon Kniže am Graben 13 .
Gerade weil Loos und seine amerikanische Frau Bessie mit vielen Figuren der künstlerischen Avantgarde Wiens eng befreundet sind, also mit Kokoschka, mit Schönberg, mit Kraus und mit Schnitzler, besteht für ihn ein himmelweiter Unterschied zwischen Kunst und Architektur: »Das Haus hat allen zu gefallen. Zum Unterschiede zum Kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. Das Kunstwerk will die Menschen aus ihrer Bequemlichkeit reißen. Das Haus hat der Bequemlichkeit zu dienen. Das Kunstwerk ist revolutionär, das Haus konservativ.«
Sein Meisterwerk
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