1913
dem Anderen zuzuschreiben waren.«
Die Inszenierung selbst geht also nicht in die Annalen der Kulturgeschichte ein. Aber die Pause – und die Sorgen, mit denen einige der Beteiligten anschließend heimkehren. In der Pause kommt es zur ersten Begegnung von Rainer Maria Rilke und seinem Kreis, den er seit Monaten mit Elogen auf die poetische Kraft Franz Werfels eingeschworen hat – mit dem leibhaftigen, kaum zwanzigjährigen Poeten Werfel selbst. Für Rilke muss es ein Schock gewesen sein. Er schreibt verstört an Marie von Thurn und Taxis nach Duino, dass er beim Anblick Werfels erstmals die »Falschheit der jüdischen Mentalität« gespürt habe, »dieser Geist, der die Dinge durchdringt wie das Gift, das überall eintritt aus Rache dafür, nicht Teil eines Organismus zu sein«. Dann aber liest Rilke wieder Werfels »herrliche Gedichte« in den »Weißen Blättern«, »die mich alles, was in der persönlichen Begegnung Beirrendes, Einschränkendes war, mit einem Ruck abschütteln lassen, ich geh schon wieder durch alle Feuer für ihn«.
Doch Rilke stellt in Hellerau in der Pause, offensichtlich verstört und unfähig, ein Gespräch anzufangen, Werfel seiner Vertrauten Sidonie Nádherný vor – und diese reagiert ebenso irritiert wie abgestoßen. Rilke berichtet, sie habe, »ein Judenbub!« geflüstert, als sie Werfel erblickte. Und das hat dieser vielleicht gehört. Auf jeden Fall behandelt die Gräfin den jungen Dichter verächtlich. Eine ungeheure Geschichte nimmt ihren Anfang. Doch langsam.
Der Prager Franz Werfel hatte, auf Vermittlung von Kafkas Vertrautem Max Brod, eine Lektoratsstelle beim aufblühenden Verlag von Kurt Wolff in Leipzig erhalten – dessen Avantgarderolle im Jahre 1913 auch damit zusammenhing, dass das Durchschnittsalter des ganzen Verlages bei 23 Jahren lag. Werfel gelang es, Karl Kraus als Autor an den Kurt Wolff Verlag zu binden, und er schrieb die schöne Verlagsanzeige im Sommer 1913 : »Es tut noch immer not, darauf hinzuweisen, dass in Karl Kraus unter uns der größten europäischen Meister einer lebt. Dieses erhabenen Satirikers erschütterndste Schrift, Die Chinesische Mauer, gibt nun der Verlag in einer monumentalen, mit Zeichnungen Kokoschkas geschmückten Ausgabe heraus. Es ist an der Zeit, dass eine neue Jugend, dass alle Geistigen und Gerechten sich von der apokalyptischen Gewalt dieser rhetorischen Fuge fortreißen lassen, damit spätere Geschlechter diese Generation nicht beschämen.« Das sind wunderbare Worte. Zugleich zeigen sie, mit welcher Besessenheit und Totalität der 20 -jährige Werfel den 37 -jährigen Karl Kraus verehrte. Wenn sie sich trafen, hing er stundenlang an seinen Lippen, seine Briefe sind voller Ehrfurcht und Ergebenheit. Im Juni hatte er Ludwig von Ficker für die Umfrage des »Brenner« zu Karl Kraus den Satz gesandt: »Ich liebe diesen Mann mit aller Schmerzlichkeit.« Karl Kraus erwiderte diese Liebe durch Anerkennung: Er druckte regelmäßig die Gedichte Werfels in seiner »Fackel« und schrieb euphorische Rezensionen.
Als sich nun am 5 . Oktober in Hellerau Franz Werfel und Sidonie Nádherný von Borutin trafen, wusste niemand, dass Karl Kraus seit einem Monat kaum mehr von ihrer Seite wich und sie beide in großer Liebe füreinander entflammt waren. Sidonie wiederum wusste nichts von der großen Wertschätzung ihres Karls für den jungen Dichter. Und so waren beide ganz unbefangen: Sidonie in ihrer Ablehnung. Und der gekränkte Franz Werfel darin, Gerüchte über Sidonie in Umlauf zu setzen. Darunter jenes, dass Rilke in wilder Liebe zu Sidonie entbrannt und dass sie früher mit einer Zirkusgruppe umhergezogen sei. Als diese Gerüchte irgendwann zu Sidonie und dann zu Karl Kraus dringen, gerät Kraus in Rage und kalte Wut. Er bricht mit Werfel, lässt kein gutes Haar mehr an seiner Lyrik, verunglimpft sie in der »Fackel« und spricht dort das vernichtende Urteil über Werfel: »Ein Gedicht ist so lange gut, bis man weiß, von wem es ist.«
Es ist nicht bekannt, ob der Jude Kraus je erfuhr, dass es der Ausruf »Judenbub« seiner abgöttisch geliebten Sidonie war, der Werfel so sehr kränkte, dass er sich nur durch bösartige Gerüchte zu helfen wusste. Dass schließlich Rilke in innigen Briefen an seine Vertraute Sidonie, als er von deren engem Verhältnis zu Kraus erfuhr, auch vor einer Heirat warnt, weil »ein letzter unaustilgbarer Unterschied« sie trenne, das macht diese Pausenereignisse am 5 . Oktober in Dresden vollends zu einem
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