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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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traurigen Datum in der deutschen Kulturgeschichte. In jener Pause übrigens schrie Else Lasker-Schüler, die große Dichterin der »Hebräischen Balladen«, immerfort »Schlecht, schlecht«, weil ihr die Aufführung so missfiel – und das wiederum verstörte Rilke ebenfalls und er hielt es für barbarisch.
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    Kurzes Nachspiel, Thema »Die Liebe kommt, die Liebe geht«: Rainer Maria Rilke lässt sich in Hellerau am 16 . Oktober noch einmal von Émile Jaques-Dalcroze und seinen Schülern vortanzen, worin genau dessen Methode der Körperaktivierung besteht. Im Saal des ansonsten leeren Festspielhauses sitzen neben ihm zur Rechten Lou Andreas-Salomé und zur Linken Ellen Delp, jene heißbegehrte »morgendliche Ellen« aus dem August in Heiligendamm, die Lou ihre »Wahltochter« nennt. Rilke, der tatsächlich in Dresden in der Sidoniestraße wohnt (im Hotel Europäischer Hof), schreibt dann gemeinsam mit Lou Andreas-Salomé einen Brief an Sidonie Nádherný, in welchem die beiden ihr raten, sich in ihrer Seelennot doch unbedingt an Dr. Friedrich Pineles in Wien zu wenden – jenen Pineles, der weniger als Psychologe denn als Verführer erfolgreich war und als »Erdenmann« ein paar Jahre zuvor Lou Andreas-Salomé die Freuden der körperlichen Liebe gelehrt hatte. Was für ein herrliches Durcheinander. Es könnte sein, dass das selbst Rilke zu viel wird. Er bricht tags darauf Hals über Kopf auf und reist zurück nach Paris. Von dort schreibt er am 31 . Oktober, dass er die Scheidung von Clara einreichen will.
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    Der junge Arnolt Bronnen schreibt sein wütendes Drama »Recht auf Jugend«, ein Aufstand der jungen Generation gegen die alte. Und Gottfried Benn, der im Jahr zuvor mit ansehen musste, wie sein Vater Gustav Benn, Landpfarrer zu Mohrin in der Neumark, seiner todkranken Mutter aus ethischen Gründen das Morphium verweigerte, das er, der Sohn und Arzt, ihr zur Linderung verschreiben wollte, und diese daraufhin unter Schmerzensschreien starb? Auch der Schmerz, so predigt der Pfarrer seiner Frau und seinem Sohn, sei von Gott gesandt. Es ist das letzte Mal, dass Gottfried Benn der Welt der Väter gehorcht. 1913 , ein Jahr später, richtet er den Vater lyrisch hin. »Söhne« heißt sein Gedichtband, der schon im Titel zum Ausdruck bringt, wer jetzt das Sagen hat. Es ist ein Zeichen der Selbstbehauptung gegen die übermächtigen Väter. Die Väter werden herausgefordert, unter Qualen, nur in Gedanken erst einmal, aber später auch mit Worten. Doch es dauert noch ein bisschen. Georg Trakl schreibt in diesem Herbst die »Verwandlung des Bösen«, darin die schreiende Selbstanklage: »Was zwingt Dich still zu stehen auf der verfallenen Stiege, im Haus Deiner Väter?« Kafka also wird den »Brief an den Vater« schreiben. Und Benn besingt in Gedichten die Erinnerung an die Mutter. Und viel später dann, in seinem Jahrhundertgedicht »Teils-Teils«, wird es heißen: »Mein Vater war einmal im Theater gewesen / Wildenbruchs Haubenlerche.« Das war dann der in seinen Augen ultimative Vatermord, anders als bei Freuds Urhorde: nämlich getarnt als kultureller Snobismus.
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    Gewidmet ist Benns »Söhne«-Band übrigens Else Lasker-Schüler. »Ich grüße Else Lasker-Schüler: Ziellose Hand aus Spiel und Blut«, schreibt er auf das Vorsatzblatt, offenbar ein letzter, kurzer Anflug von Sentimentalität, bevor bei diesem Pathologen die Gefühlsflucht endgültig pathologisch wurde. Und Else schreibt aus ihrer Matratzengruft, die ihr nur das tägliche Opium erträglich macht und die ärztlichen Besuche ihres Haus- und Seelenarztes Alfred Döblin, an ihren »Blauen Reiter« Franz Marc nach Sindelsdorf einen neuesten Bericht zur Lage der Liebe: »Der Cyklop Dr. Benn hat mir seine neuen Verse ›Söhne‹ gewidmet, die sind mondrot, erdhart, wilder Dämmer, Gehämmer im Blut.« So also endet diese große Liebe, wie sie einst begonnen hat: mit großen Worten.
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    Ludwig Wittgenstein reist am 16 . Oktober mit seinem Freund David Pinsent mit dem Schiff von England nach Norwegen und arbeitet weiter am »Tractatus logico-philosophicus«. Er schreibt seine Gedanken feinsäuberlich in ein Notizbuch. Zuvor aber vermerkt er auf der ersten Seite: »Nach meinem Tode zu senden an Frau Poldy Wittgenstein, Neuwaldeggerstraße 38 , Wien und B. Russell, Trinity College, Cambridge«. Der akademische Lehrer und die Familie sind die Pfeiler, die Wittgenstein halten, als er ein neues Gebäude der Logik zu errichten versucht. Noch bei der

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