1913
des Jahres 1913 ist das »Haus Scheu« in Hietzing, das erste Terrassenhaus Europas, das in seiner weißen schlichten Eleganz und der arabisch anmutenden Staffelung schon im Baujahr die Wiener Gemüter erhitzte. Die Bauherren, der Freund von Loos und Rechtsanwalt Gustav Scheu und seine Frau Helene, aber waren glücklich. »Ich hatte bei dem Entwurf dieses Hauses nicht im entferntesten an den Orient gedacht«, sagte Loos. »Ich meinte nur, dass es von großer Annehmlichkeit wäre, von den Schlafräumen, die sich im ersten Stockwerke befanden, eine große, gemeinschaftliche Terrasse betreten zu können.« Und doch wirkt das »Haus Scheu« auf alle wie eine Fata Morgana. Die Wohn- und Schlafräume öffnen sich ins Freie, man geht auf große Terrassen, das ganze Haus ist durchflutet von Licht und Luft. Die Anwohner und die Behörden protestieren lange, dann lässt sich Loos auf einen Kompromiss ein: Er lässt die Fassaden bewachsen. Es geht Loos ja vor allem um die Wirkung der Räume auf den Menschen. »aber ich will gerade, dass die menschen in meinen zimmern den stoff um sich fühlen, dass er auf sie wirke, dass sie von dem geschlossenen raum wissen, dass sie den stoff, das holz fühlen, dass sie es mit ihrem gesicht und tastsinn, überhaupt sinnlich wahrnehmen, dass sie sich bequem setzen dürfen und den stuhl auf einer großen fläche ihres peripheren körpertastsinns fühlen und sagen: Hier sitzt es sich vollkommen.«
Adolf Loos machte niemals Witze und meinte alles tödlich ernst. Und dennoch wirkte er unglaublich gewinnend. Man spürte jedem seiner Innenräume und jedem seiner Häuser an, dass sie wirklich maßgeschneidert waren. Und auch, dass Loos lieber nicht bauen würde, als etwas Unpassendes zu bauen. Oder, wie er es selbst sagte in seinem großen wahren Credo: »Fürchte nicht, unmodern gescholten zu werden. Veränderungen der alten Bauweise sind nur dann erlaubt, wenn sie eine Verbesserung bedeuten, sonst aber bleibe beim Alten. Denn die Wahrheit, und sei sie hunderte von Jahren alt, hat mit uns mehr Zusammenhang als die Lüge, die neben uns schreitet.« Der provokante Erneuerer als nachdenklicher Traditionalist – Loos überforderte sein zeitgenössisches Publikum. Er hatte kein Problem damit, nicht als modern zu gelten (was immer dieses Wort eigentlich heißt). Wir aber wissen heute, wie sehr er es war. Mehr wohl als jeder andere Architekt, der 1913 am Werke war.
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Franz Kafka kommt am 8 . November um 22.27 Uhr nach achtstündiger Bahnfahrt am Anhalter Bahnhof in Berlin an. Grete Bloch, Felice Bauers Freundin, hatte sich Ende Oktober als Vermittlerin zwischen Prag und Berlin eingeschaltet und versuchte eine neue Annäherung zwischen den unglücklich Liebenden, die durch den verkorksten Heiratsantrag Kafkas wie gelähmt waren.
Am 9 . November, dem deutschen Schicksalstag, kommt es zu einem zweiten Treffen der beiden in Berlin. Es ist abermals eine Tragödie. Sie gehen am späten Vormittag über eine Stunde durch den Tiergarten. Dann muss Felice zu einer Beerdigung, will sich danach wieder bei Kafka im Hotel Askanischer Hof melden. Sie macht es nicht. Es regnet langsam und unaufhörlich. Wieder sitzt Kafka wie einst im März im Hotel und wartet auf eine Nachricht von Felice. Aber es passiert nichts. Um 16.28 Uhr steigt Kafka wieder in den Zug nach Prag. Und er berichtet an Grete Bloch, die Vermittlerin: »So bin ich von Berlin weggefahren wie einer der ganz unberechtigterweise hingekommen ist.«
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An demselben 9 . November wird in Berlin der bekannte Psychoanalytiker und Autor Otto Gross in der Wohnung von Franz Jung durch preußische Polizeibeamte verhaftet und nach Österreich ausgewiesen. Dort wird er von seinem Vater für verrückt erklärt, entmündigt und in das Sanatorium Tulln eingewiesen. Max Weber setzt sich von Heidelberg aus vehement ein für seine Freundin Frieda Gross, Ottos Ehefrau. Von Berlin aus protestiert die Zeitschrift »Die Aktion« mit einer Sondernummer. Es ist ein Vater-Sohn-Kampf und Generationenkonflikt der ganz anderen Art. Beherrschung des unbeherrschbaren Sohnes durch Entmündigung
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Im Minervasaal in Triest, der südlichsten Hafenstadt Österreich-Ungarns, hält James Joyce eine Vorlesungsreihe über Hamlet. Er hat zuvor versucht, mit einem Kino in Dublin zu Geld zu kommen, und mit dem Gedanken gespielt, Tweedwolle aus Irland nach Italien zu importieren. Aber ist daran gescheitert. Auch seine Versuche, mit seinen Büchern Geld zu verdienen, sind nicht
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