1913
James Simon, Albert Ballin und Walther Rathenau, wegen ihrer Nähe zu Wilhelm II . despektierlich nannte. In seinem Haus hingen Menzel, Liebermann und Böcklins »Prometheus«, daneben aber auch Porträts von Wilhelm I. und Bismarck.
Am Abend des 2 . Oktober versammelt sich im Hause Arnhold eine illustre Reisegesellschaft. Emil und Ada Nolde sind aufgeregt. Es wird getafelt, gespeist, getrunken, um Viertel vor zwölf bricht die Gruppe zum Bahnhof Zoo auf. Als sie dort leicht angeduselt eintreffen, steht am Gleis schon der Nachtzug nach Moskau via Warschau. Um 0.32 Uhr setzt er sich plangemäß in Bewegung. Der Expeditionsleiter Dr. Alfred Leber bezieht ein Nachtabteil, und neben den Noldes zieht die junge Krankenschwester Gertrud Arnthal ein, eine Nichte Arnholds, die die gesundheitlich angegriffene Ada Nolde betreuen wird. Die »Medizinisch-demographische Deutsch-Neuguinea-Expedition« konnte beginnen.
Am 5 . Oktober kommt der Zug der Expedition, mit deren Hilfe Nolde am einfachsten in seine verehrte, ferne Südsee kommen konnte, in Moskau an. Am 7 . Oktober geht es weiter mit der Transsibirischen Eisenbahn über den Ural und Sibirien bis in die Mandschurei. Als Repräsentanten einer Expedition der deutschen Regierung reisen sie alle Erster Klasse. Von der Mandschurei erfolgt die Weiterfahrt über Shenyang und Seoul. Von dort setzen die Reiseteilnehmer nach Japan mit einem Schiff über. Dort treffen sie Ende Oktober ein. Es ist kalt, nass und ungemütlich. Von Südsee noch keine Spur.
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Am Abend des 5 . Oktober 1913 kommt es zur Aufführung von Paul Claudels »L’Annonce faite à Marie« in Hellerau bei Dresden. Das Publikum ist, angelockt durch die Reformbestrebungen der Hellerauer Tanzschule um Dalcroze und das neue Festspielhaus von Heinrich Tessenow, exquisit: Thomas Mann ist da, Rainer Maria Rilke mit seinen beiden engsten Vertrauten, also Lou Andreas-Salomé und Sidonie Nádherný, Henry van de Velde ebenso wie Else Lasker-Schüler. Auch Max Reinhardt ist an diesem Abend in Hellerau, Martin Buber, Annette Kolb, Franz Blei, Gerhart Hauptmann, Franz Werfel, Stefan Zweig und die beiden wichtigsten jungen Verleger Ernst Rowohlt und Kurt Wolff.
Während Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal am Dresdner Hoftheater den »Rosenkavalier« inszenieren, wird das neue Festspielhaus zum Treffpunkt der Avantgarde. Ziel von Émile Jaques-Dalcroze war es, eine neue Einheit von Körper, Geist und Musik zu finden. Mit rhythmischen Übungen und Improvisationen sollte der Körper in Verbindung mit Musik von seinen zivilisationsbedingten Blockaden befreit werden. Ernst Ludwig Kirchner hätte das gefallen. Und Upton Sinclair, der amerikanische Autor, der wohl auch am 5 . Oktober in Hellerau war, schrieb später in seinem Roman »World’s End«: »In Hellerau lehrte man das Alphabet und die Grammatik der Bewegung. Man schlug den Takt mit den Armen; es gab Bewegungssätze im Drei-, im Viervierteltakt und so fort. Mit den Füßen und dem Körper gab man die Notenlänge an. Es war eine Art rhythmischer Gymnastik, so angelegt, dass der Körper trainiert wurde, schnell und genau auf geistige Eindrücke zu reagieren.«
Diese neue Form des Ausdrucktanzes zog alle in ihren Bann. Die Kombination mit Paul Claudels »Verkündigung« aber wurde nicht plausibel. Claudel notiert an diesem Abend irritiert in seinem Tagebuch, dass der Applaus fast völlig ausblieb. Dalcroze spricht sogar offen von einem Fiasko. Rilke resümiert in zwei Briefen an Hugo von Hofmannsthal und Helene von Nostitz den Abend und seine Irritationen aufs Schönste: »Die hellerauer Leute lassen sich, als große Kinder, mit etwas ein, was sie nicht verstehen, aber, Gott weiß, vielleicht lernen sie’s dabei und kommen gar nicht erst in das Trübe, das heute das Theater ist, sondern gleich auf den Grund von etwas Durchsichtigem und Reinem, das uns allen zustatten käme.« Grundsätzlich also erkennt Rilke bei den Experimenten in Hellerau eine Chance, dem Geheimnis, nach dem alle Avantgardisten, die von der Moderne erschöpft sind, suchen. Die »Verkündigung« von Paul Claudel allerdings, da ist sich Rilke sicher, werde nicht dabei helfen. Oder, wie er es an Hofmannsthal schrieb: »Die
Verkündigung
, Claudel, ich wüsste nichts Genaues darüber zu berichten, das ging so hin, gab zu denken, war aber so mit den hellerauer Versuchen, die auch wieder zu denken geben, vermischt, dass man nicht recht wusste, ob die Sorgen, mit denen man nachhause ging, dem Einen oder
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