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192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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gehabt, und der Clan sprach noch heute von den Schreien, dem Zucken und dem Anblick haariger Spinnenbeine, die das unglückliche Opfer Stück für Stück unter die Erde zogen. Gut möglich, dass Yangingoo genauso enden würde, sollte er seine Autorität verlieren.
    Er wandte sich dem Obersten Jäger zu. »Höre, Nimbutj-ja! Ich bin der Einzige weit und breit, dem der Ahne die Gnade des Verstehens gewährt hat. Wo andere nur das Wispern des Windes vernehmen, erkenne ich göttliche Worte.«
    »Schön, aber…«
    »Nichts da!«, schnappte Yangingoo scharf. »Der Ahne hat uns ins Wellowin geführt, weil er will, dass wir den verlorenen Weg in die Traumzeit wieder finden! Er hat uns Felder zum Bewirtschaften gegeben und ein verlassenes Höhlenlabyrinth…«, er hielt eine dampfende schlaffe Eidechse hoch, »ja, sogar Leckereien! Was wollt ihr eigentlich noch?«
    »Wir wollen nach Hause«, sagte der Bienentänzer. Sein kleiner Enkel war am Morgen beim Klettern auf den Felsen zu Tode gestürzt.
    »Ich verstehe deinen Schmerz, Bornh-born-na Barnanyin.«
    Yangingoo streckte die Hand nach den Frauen aus und rief:
    »Wein!«
    Das tat er nicht grundlos. Dieser Wein war das Ergebnis der Arbeit des Bienentänzers und sein ganzer Stolz. Wer nach ihm verlangte, ehrte damit gleichzeitig den Hersteller.
    Yangingoo ließ sich eine große Schale reichen. Er trank in durstigen Zügen, fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen und verlangte nach mehr. Dann nickte er dem Bienentänzer zu.
    »Köstlich«, lobte er. »Viel besser als früher! Daran kannst du sehen, dass nicht ich allein Gnade vor dem Ahnen gefunden habe. Er hat deine Fähigkeiten bemerkt und dich durch mich ins Wellowin geführt, denn nur hier findest du Zutaten von solcher Vortrefflichkeit. – Hast du selbst gesagt«, fügte Yangingoo hinzu, weil keine Antwort kam.
    Ehe er die Schale abstellte, um nach seiner dritten Schüssel Kohl zu greifen, trank Yangingoo noch einen Schluck. Der Wein wurde aus Kräutern und vergorenem Honigwasser hergestellt, war also eigentlich Met. Diesen Unterschied machten die Mandori aber nicht.
    Im Wellowin gab es einen windgeschützten und dennoch sonnigen Felsen. In den Abendstunden färbte er sich regelmäßig schwarz mit heimkehrenden Barnanyin, den Wildbienen Ausalas. Ihr Honig erfreute sich allgemein großer Beliebtheit, davon zeugten die bleichen Tierknochen unterhalb des Felsens. Sie verrieten ebenfalls, dass mit den angriffslustigen Honigproduzenten nicht zu spaßen war. Der Bienentänzer jedoch besaß eine seltene Gabe. Er verstand ihre auf Bewegungen basierte Sprache! Was genau er tat, um von den Insekten akzeptiert zu werden, war sein Geheimnis. Auf jeden Fall kehrte er stets ungestochen und mit triefenden Honigstöcken vom Felsen zurück.
    »Du bist ein wichtiger Mann im Clan«, sagte Yangingoo.
    »Aber wenn wir wieder an den Fluss ziehen, verlierst du diese Stellung.«
    »Ich habe meinen Enkel verloren! Er war wichtig. Der Rest ist nur das Ergebnis meiner Arbeit. Eine vergängliche Würde. So unbedeutend.« Der Bienentänzer klang traurig.
    »Na ja, vergänglich sind wir alle«, meinte Yangingoo mit vollem Mund, verschluckte sich prompt und begann zu husten.
    Eine halbe Eidechse und ein Sprühregen kleiner Kohlstücke flogen davon. Yangingoo spuckte ihnen wütend hinterher, wischte sich die Tränen aus den Augen und griff nach der Weinschale.
    Ein Junge trat heran, tippte ihm auf die Schulter.
    »Nirra-mang (Vater) ?«, fragte er scheu.
    Yangingoo lächelte ihm gönnerhaft zu. »Punta! Was willst du, mein Sohn?«
    »Ich möchte dich fragen, ob ich Jagd auf die Kukka’bus machen darf. Es gibt so viele davon, einen ganzen Baum voll, und sie sind sicher leicht zu fangen! Wir könnten sie braten, wie die Fische früher.«
    »Bist du verrückt?«, erboste sich Yangingoo. Er mochte kein Vogelfleisch. »Was glaubst du, warum Kukka’bus lachen? Sie sind die Lieblingstiere des Ahnen, deshalb! Wenn wir auch nur eins von ihnen töten, kommt sein göttlicher Zorn über uns!« Er griff nach der Weinschale, hob sie an die Lippen.
    »Dann werden wir nie erfahren, wie man in die Traumzeit gelangt.«
    Wumm.
    »Was war das?«, fragte Punta erschrocken. Er bekam keine Antwort. Yangingoo starrte wie versteinert auf seinen Wein.
    Von der Mitte der Schale liefen winzige Wellen an den Rand.
    Alles Geschrei erstarb, das Rennen und Zanken der Kinder hörte auf. Mütter nahmen ihre Babys hoch, winkten den älteren Nachwuchs an ihre Seite und eilten zu

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