192 - Nah und doch so fern
Bruder des Clanchefs vertrat der Schamane Yangingoo, wenn dieser unpässlich war. So wie heute. Yangingoo hatte sich in seine Schlafhöhle zurückgezogen, um seinen Lieblingssohn zu betrauern und eine besonders große Portion Kohl zu essen im Gedenken an ihn.
»Ich geh dann mal«, knurrte Nimbutj-ja.
»Ich komme mit!«, sagte Punta hastig.
»Nein, nein! Das ist nichts für dich!« Bienentänzer wollte ihn zurückhalten, doch der Junge schlug seine Hand weg.
Puntas Kinn zitterte. Er reckte den Kopf hoch. »Taranay ist mein… war mein Bruder, und ich will nicht, dass ihn jemand holt, nur weil er es muss!« Er griff nach der Strickleiter, kletterte los und sagte schluchzend: »Außerdem habe ich ihn geliebt!«
Bis Punta den Schildkrötenpanzer erreicht hatte, war sein Gesicht nass geweint. Er hatte Mühe, bei all den Tränen das Verriegelungssystem zu öffnen.
Sonnenlicht flutete herein, als der Deckel zur Seite schwang, und da war ein Geräusch, das eigentlich nicht da sein durfte: leises Lachen! Punta kniff die Augen zusammen, um im gleißenden Licht etwas auszumachen, erkannte menschliche Umrisse. Zwei Männer saßen auf dem Boden, ein Stück vom Tor entfernt. Der eine hatte die Hand auf dem Griff eines Schwertes. Der andere war…
»Taranay!«, schrie Punta.
Die Männer blickten auf.
»Das ist mein Bruder«, erklärte Taranay seinem Begleiter und fügte lässig hinzu: »Er heult bei jeder Kleinigkeit! Hätte besser ein Mädchen werden sollen.«
Dann breitete er grinsend die Arme aus, und Punta flog ihm um den Hals. Eigentlich tat man so was nicht, denn es war peinlich, vor allem für den Älteren. Doch unter den gegebenen Umständen kümmerte das keinen.
Punta wusste nicht wohin vor Glück. Er riss sich los, rannte zum Höhleneingang und brüllte hinunter: »Er lebt! Taranay lebt!« Danach rannte er wieder zurück, umarmte den Bruder und betastete dessen Gesicht, um zu sehen, ob es auch wirklich kein Traum war.
Den erwachsenen Mandori erging es ähnlich. Im Handumdrehen war Taranay von Männern umringt, die alle zugleich auf ihn einsprachen und an ihm herum zupften. Bis sich Yangingoo die Strickleiter hoch gewuchtet hatte, war sein verloren geglaubter Sohn mit roten Flecken übersät.
Yangingoo bestarrte ihn wie ein Gespenst. Nie zuvor hatte jemand den Angriff der Bestie überstanden, und dass ausgerechnet ein fauler Mädchenheld wie Taranay die Ausnahme sein sollte, leuchtete nicht ein.
»Du lebst, mein Sohn! Wie kommt das?«, fragte Yangingoo stirnrunzelnd.
»Er hat mich gerettet!« Taranay zeigte auf den Fremden, der sich soeben erhob. Dem Aussehen nach war er ein Mann des Mischvolks. »Er hat den Owomba getötet, als der mich töten wollte. Seht selbst! Da hinten ist er!«
Ein Schrei ging durch die Reihen der Mandori, als sie Taranays Fingerzeig folgten. Nahe der Schirmakazie lag ein riesiger Körper am Boden. Sein Rücken war der Länge nach aufgerissen. Vögel hockten in der Wunde und bedienten sich.
Bei der Größe der Verletzung hätte man allerdings eher auf einen mächtigen Haken als Verursacher getippt als auf ein Schwert.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte denn auch der Oberste Jäger misstrauisch. Der Fremde antwortete nicht gleich, kam aber auf Nimbutj-ja zu, und während er das tat, wurde das Gesicht des Mandori seltsam leer. Einen Moment nur, dann fing sich Nimbutj-ja wieder.
Yangingoo schob ihn zur Seite. »Wer bist du, Fremder?«
»Ich bin ein wilh-ma wakban«, erwiderte der hellhäutige Mann.
Die Antwort löste Erstaunen aus. Wilh-ma wakban bedeutete Allein gehen. Damit bezeichnete das Mischvolk seine Auslieger, also Paare, die sich von der Gemeinschaft absonderten, um ihre Kinder allein in der Wildnis aufzuziehen.
Das kam selten vor, geschah aber nicht ohne Grund, und solche Frauen und Männer waren fast immer hervorragende Jäger.
»Ein Auslieger!«, wiederholte Yangingoo staunend. »Ich bin noch nie einem von euch begegnet. Wo ist deine Familie?«
»Unter der Erde.«
»Oh, tut mir Leid, äh – wie heißt du eigentlich?«
»Grao Wongh-nga«, sagte der Fremde. Wongh-nga (»Dein Land vermissen«) war die Anangu-Umschreibung für Heimweh und ein verbreiteter Name unter Ausliegern. Er passte in den meisten Fällen. Auch in diesem, irgendwie.
Yangingoo schwieg. Der Fremde wartete eine Weile. Als nichts kam, schulterte er sein Schwert, wandte sich ab und ging davon.
Bienentänzer trat neben den Clanchef und flüsterte ihm verärgert zu: »Solltest du dem Mann nicht
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