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192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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durch Yangingoo, der neben ihm saß und sich eine Kohlrolle nach der anderen in den Mund stopfte.
    »Greif zu!«, ermunterte er den Daa’muren schmatzend und mit leutseligem Rippenstoß. Letzteres konnte er, weil er Grao’sil’aana einen Ehrenplatz gegeben hatte, links neben sich.
    Dort saß normalerweise der blinde Schamane. Grao’sil’aana hatte genug Erfahrung mit Primärrassenvertretern, um zu wissen, wann er auf einen nennenswerten Gegner traf.
    Warnambi war so ein Gegner.
    »Taranay! Erzähl uns von der Heldentat deines Retters!«, bat er soeben, und nichts in seiner sanften Stimme ließ den Ärger Warnambis darüber erkennen, dass er seinen Platz einem Fremden überlassen musste. Die scheinbar harmlose Frage verriet auch nichts vom Misstrauen des Schamanen. Zumindest nicht den Mandori. Grao’sil’aana aber nahm sofort mentale Verbindung zu Taranay auf.
    »Ich… ich weiß nicht mehr genau, was passiert ist.« Der Siebzehnjährige griff sich fahrig an die Schläfe. »Es war schon dunkel, und es ging alles so schnell! Ich weiß nur noch, dass der Owomba auf mich zu kam und ich dachte: Jetzt ist es aus! Dann lag die Bestie am Boden, tot, und Grao stand neben mir. Er half mir auf die Beine. Ich muss wohl gestürzt sein.«
    Der Schamane beugte sich vor. »Du hast also gar nicht gesehen, wie er den Owomba getötet hat?«
    »He!«, schnappte Yangingoo ungewöhnlich böse. »Willst du den Retter meines Sohnes beleidigen?«
    »Aber nein«, sagte Warnambi. »Ich dachte nur, es wäre doch schön, wenn wir jede Einzelheit seiner außerordentlichen Heldentat erfahren könnten.«
    »Ich habe gesehen, wie er das Schwert aus der Bestie zog«, sagte Taranay. Tränen schimmerten in seinen Augen, als er leise hinzufügte: »Zu spät für Biradoo.«
    »Ach, vergiss das Mädchen. Es gibt ja noch andere!«, winkte Yangingoo ab.
    Warnambis Stimme wurde Mitleid heischend. »Habt Verständnis, meine Freunde! Seht mich an! Ich führe ein Leben in der Finsternis, kann meine Familie nicht sehen, meinen lieben Bruder, meine Neffen. Mein einziger Trost sind die Geschichten in eurem Kreis, die mir Bilder schenken, die meine nutzlosen Augen nicht mehr erfassen können.«
    (Fall um und sei tot), dachte Grao’sil’aana, rief sich aber gleich wieder zur Ordnung. Er beobachtete genau, wer von seinem Platz aufsprang, um den Schamanen zu umarmen, brüderlich zu küssen und tröstend auf ihn einzuschluchzen.
    Jeden dieser Männer nahm sich der Daa’mure vor. Bis sie wieder zu ihrem Essen zurückkehrten, hatte er ihnen allen dieselbe vermeintliche Erinnerung eingepflanzt, und so erzählen sie Warnambi, was er hören sollte.
    »Taranay ist erschöpft und trauert, deshalb kann er sich nicht mehr erinnern«, sagte der Oberste Jäger. »Als wir ihn fanden, wusste er noch genau, was passiert ist. Ich habe es selbst gehört!«
    »Ich auch.« Bienentänzer nickte. »Grao Wongh-nga hat klug und tapfer gegen die Bestie gekämpft! Er versteht es, mit wilden Tieren umzugehen. Wie ich mit den Bienen.«
    Grao’sil’aana stocherte in seiner Kohlschüssel herum, während er den Mandori aufmerksam zuhörte. Er staunte nicht schlecht, als seine suggerierte Geschichte eine Eigendynamik entwickelte und, je länger die Männer sprachen, immer mehr zu einer Gemeinschaftsoperation wurde, an der alle irgendwie beteiligt gewesen waren.
    »Ich habe es geahnt, dass jemand den Owomba töten wird!«, behauptete Yangingoo.
    »Tatsächlich?«, fragte Warnambi gedehnt. »Warum hast du dich dann in deine Schlafhöhle verkrochen und geheult?«
    »Erstens habe ich nicht geheult, das tue ich nie, ich bin ein Mann! « Yangingoo griff in seine Schüssel und warf dem Schamanen eine Kohlrolle an den Kopf. »Und zweitens habe ich die Stimme des Ahnen im Wind gehört. Er hat mir versprochen, dass Taranay gerettet würde. Willst du meine besondere Fähigkeit anzweifeln?«
    »Auf keinen Fall«, sagte Warnambi, und die Art, wie er das sagte, ließ den Daa’muren aufhorchen. Grao’sil’aana hatte versucht, den Schamanen mental zu beeinflussen. Doch es funktionierte nicht, und das, obwohl Warnambi keine besonderen Fähigkeiten besaß. Er war nicht einmal ein Telepath! Grao’sil’aana vermutete, dass es sich bei ihm um eine jener seltenen Ausnahmen handelte, die resistent waren gegen eine erzwungene synaptische Knotenbildung. Er war schon früher einer solchen Ausnahme begegnet: Das kleine Mädchen im Schloss der Daa’muren, damals in Rumänien, hatte sich auch nicht

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