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192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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ihnen die Schildkrötentore sehen und Taranay, der vergeblich versuchte, eins davon zu öffnen. Dort gab es also keine Rettung! Aber wo sonst sollte er hin?
    Nuntimor schimmerte durch die zerbrochenen Zweige. War es einen Versuch wert? Nein.
    Wumm. Das Monster machte einen Schritt zurück, verschaffte sich Platz für Augen und Maul. Grao’sil’aana wollte schon losrennen, da fiel sein Blick auf die Springhasen, die noch immer reglos verharrten. Sie waren größer als die Kukka’bus und bestimmt nicht schwerer zu fangen als ein Mandori-Mädchen, trotzdem blieben sie verschont. Das konnte kein Zufall sein! Wenn der Owomba Vögel und Menschen fraß, warum sollte er Hasen verschmähen? Und plötzlich dämmerte es Grao’sil’aana. Die Bestie reagierte auf Geräusche und Bewegung!
    Schnaufend fuhr ihr riesiges Maul über ihn hinweg.
    Grao’sil’aana rührte sich nicht, hielt den Atem an. Der riesige Schädel sank herunter, und einige Herzschläge lang stand der Daa’mure Auge in Auge mit dem Owomba. Das eine maß ein paar Zentimeter, das andere war entsetzlich. Es hatte eine Iris aus verlaufendem Orange und Rot, und in die Pupille hätte man eine Faust stecken können.
    Nach dem Krachen der Zweige, nach Biradoos Schreien und dem grässlichen Gelächter der Kukka’bus war es plötzlich still im Tal. Der Wind konnte wieder Taranays Stimme herantragen.
    »Macht auf! Ich flehe euch an, macht auf!«, schrie der Junge und schlug dabei mit den Fäusten auf die Schildkrötenpanzer.
    Langsam, fließend, drehte sich der Kopf des Owomba um.
    Wummernd trat eine Pranke auf, der Körper schwenkte in Taranays Richtung. Grünzeug und Erde flogen, als die Bestie lossprang.
    Grao’sil’aana stieß die Luft aus, hastete hinter den Baum.
    Von dort konnte er sehen, wie das Monster auf die Schildkrötentore zu donnerte und Taranay vor Entsetzen in die Knie ging. Doch er sah noch etwas anderes, und es erfüllte den Daa’muren mit grimmiger Freude: Auf lautlosen Schwingen kam der Todesrochen ins Tal!
    Grao’sil’aana stellte den mentalen Kontakt her, lenkte Thgáans Augenmerk auf den Owomba und sagte nur: (Töten!)
    ***
    Es dauerte lange am nächsten Morgen, bis die Mandori ihre Tore öffneten. Niemand wollte der Erste sein, der die Überreste von Taranay und Biradoo zu sehen bekam. Der ganze Clan hatte noch die Schreie im Ohr, hörte noch das Klopfen und Flehen des Jungen. Sie konnten Taranay nicht hereinlassen, es ging einfach nicht. Der Owomba hatte schon vor dieser Nacht Menschenleben gefordert, und die Mandori wussten aus Erfahrung, dass ein geöffnetes Schildkrötentor zur tödlichen Bedrohung für alle werden konnte. Nicht umsonst hing am Platz des Anführers eine überdimensionale Kralle. Sie war der Bestie abgebrochen beim Versuch, den Höhleneingang zu vergrößern – nachdem sie ihr Opfer aus dieser vermeintlichen Sicherheit wieder herausgezerrt hatte.
    »Vielleicht war es diesmal anders«, sagte Punta in das Geflüster hinein, das ihm nicht galt. Er bekam keine Antwort.
    Der Elfjährige stand in der Versammlungshöhle an der Strickleiter, die zum Tor hinauf führte. Leise und ernst besprachen sich dort die Ältesten. Jemand musste ins Freie und die Umgebung absuchen, ehe die Kinder auf die Felder durften.
    Dieser Jemand würde dann auch einen Sack mitnehmen müssen. Für die Leichenteile.
    Punta bemühte sich tapfer, keine Tränen zu zeigen. Taranay war ein guter Bruder gewesen! Er hatte ihm das Jagen und Fischen beigebracht, ihm gezeigt, wie man Muster auf den Boden pinkelt und harmlose Blindschleichen mit Beerensaft betupft, damit sie wie Korallenvipern aussehen und die Mädchen zum Kreischen bringen. All die wichtigen Dinge eben, die ein Junge können muss.
    »Vielleicht ist er ja gar nicht tot! Vielleicht konnte er weglaufen!«, beharrte Punta verzweifelt. Der alte Bienentänzer sah ihn mitleidig an, tätschelte ihm wortlos den Kopf. Er hatte vor ein paar Tagen seinen Enkel begraben, der beim Klettern auf den Felsen abgestürzt war. Er verstand Puntas Schmerz.
    Die anderen Männer blieben eher sachlich.
    »Wenn sich keiner freiwillig meldet, schlage ich vor, dass Nimbutj-ja geht«, sagte Warnambi, der blinde Schamane.
    »Ich? Nein! Ich bin der Oberste Jäger und kein Totengräber!«, wehrte Nimbutj-ja ab.
    »Verstehe. Dein Schmerz ist größer als der unseres Anführers.« Warnambis Stimme war voller Altersmilde. Wer klug war, erkannte jedoch die Schlange hinter den milchblinden Augen und nahm sich in Acht. Als

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