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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Grammophon , wie auch mein Vater den Plattenspieler nannte. Es spielte das wunderbare Streichsextett von Brahms, das mich in meiner Verlegenheit stark berührte. Ich erlaubte mir sogar, eine Träne zu vergießen, und staunte, dass ich Flüssigkeitin den Augen hatte, obwohl ich doch kaum ein Glas Wasser pro Tag zu trinken bekam. Die Granateneinschläge störten die Musik. Aus einem nahen Fenster hörte man inständige Gebete. Ich sah einen Vogel am Fenster, und der Hausherr sagte, so ein Vogel hat es gut, der kann auch anderswo hinfliegen. Die beißende Kälte ließ nicht nach. Die Frau fragte, wie alt ich sei, und ich antwortete, zehn Minuten vor achtzehn, und sie lachte, weil sie vielleicht weinen wollte, und ihr Mann sagte zu mir, du bist hier das Kind, stellst die vier Fragen, und er reichte mir eine Pessach-Haggada. Es gab kaum Licht, aber ich schaffte es, die Fragen vorzutragen, denn wie gesagt, ich konnte gut im Dunkeln sehen. Wie an jedem Pessachfest lachte ich über das mir unerklärliche Rätsel dieses Textes, und alle sangen den Refrain. Wir waren gemeinsam einsam.
    Die Bomben fielen unaufhörlich, lieferten ein wildes, trommelndes Leitmotiv. Ich dachte, was sollen all diese Worte der Haggada, was ist ihre Bedeutung, vielleicht war es eine Geheimsprache, um die Römer auszutricksen. Der halbe Brotlaib wurde von Hand zu Hand gereicht und gebrochen, und der Hausherr sprach den Segen über das Brot, das er Mazze nannte, und sagte: Großer Gott, schau nicht hin. Ich hörte eine Sirene, draußen riefen ein paar Leute »Vorsicht«, wer weiß, warum. Der Hund winselte, und die Frau warf ihm ein Stück von ihrem Brot hin und sagte, was für ein armer Hund.
    Ich schluckte eine ranzige Sardine, aber wer achtete damals schon auf solche Dinge, trank einen Schluck Wein und dachte, was ist, wenn wir in den Kampf ziehen müssen, und ich höre es hier nicht, aber alles ging glatt. Wir sangen Pessach-Lieder, sie hatten Haggadot aus Deutschland, in denen sich ein Stück Pappe so verschieben ließ, dass Moses’ Binsenkörbchen aus dem Schilf zum Vorscheinkam. Wir sangen dem Gehör nach, was wir im Gedächtnis hatten, erinnerten uns an dieselben Melodien, aber nicht an alle Texte.
    Es klopfte an der Tür. Herein kam ein junger Mann, der die Anwesenden der Reihe nach küsste und wohl halb blind gewesen sein muss, denn er gab auch mir einen Kuss. Er holte ein paar Kekse und eine Flasche Wasser, die er unterwegs bei einem Wasserverkäufer hatte füllen lassen, aus der Tasche. Der Hund sah verängstigt aus und ließ den Schwanz hängen, aber in seinen Augen blitzte eine vage, kluge Hoffnung auf. Die Frau gab ihm einen halben Keks, er wedelte mit dem Schwanz, und ich streichelte ihn. Sein Fell war watteweich. In der Nähe schlug eine Granate ein. Die Fenster vibrierten, aber das hielt uns nicht vom Weinen ab. Wir saßen da und weinten, sangen »Eins, wer weiß es?« so fehlerhaft, dass Gott, falls er nicht in Bergen-Belsen gestorben war, wohl jetzt bei unserem Gesang verendete. Wir saßen angelehnt, wie es an Pessach üblich ist, und weinten an den Strömen Babels im nicht erbauten Jerusalem. Das war der schönste Augenblick, den ich in diesem beschissenen Krieg erlebt habe.

14
    Eine Weile schliefen wir in der Scheune von Kirjat Anavim und danach auf dem riesigen Dachboden des Kuhstalls, der vielleicht leer stand oder doch nicht ganz leer. Später wohnte ich in einem großen Zelt am Tor des Kibbuz. Gelegentlich saß ich im Speisesaal einem Rüpel gegenüber, der eine Latif-Zigarettenschachtel in der Hemdtasche stecken hatte. Die Öffnung war natürlich oben. Darin trug er das Ohr eines Arabers mit sich herum. Wenn man ihn danach fragte, nannte er jedes Mal einen anderen Ort, an dem er es seinem Besitzer abgerissen haben wollte. Wann immer er das Ohr im Speisesaal herauszog, um es wie Kaugummi zu kauen, ergriffen ein paar junge Frauen die Flucht, und er bekam ein bisschen mehr zu essen. Wir hätten ihn deswegen anranzen sollen, aber wir waren müde und hungrig und zogen jede Nacht ins Gefecht. Wir erhielten ein oder zwei Glas Wasser pro Tag zum Trinken und Waschen, und manche wuschen damit auch noch ihre Wäsche.
    Einmal kam überraschend ein Wassertanker, ich habe keine Ahnung, woher. Eine Felddusche wurde aufgestellt, und es gab ein Gedränge. Der Dreck, der von den Leuten abfloss, sah aus wie schwarzer Kies und wackelte wie Pudding. Es stank wie die Pest. Ich wusch mich notdürftig mit dem wenigen Wasser, bis es aufgebraucht

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