1948 - Roman
Speisesaal. Er kam rein und war so höflich. Hungrig, aber höflich. Und was gab es denn damals schon zu essen? Ich sah ihn das trockene Brot mit den Kräutern und der viertel Ölsardine nehmen, und er war wohl der hungrigste Mensch, dem ich je begegnet bin. Er aß hungrig, bebend, aber wohlerzogen. Als man ihm Pudding vorsetzte, sagte er, Amnon, der Schiffskommandeur, habe ihm erzählt, in Erez Israel esse man frisches Obst. Ich sagte ihm, es täte mir leid, aber es sei keines mehr da. Er hatte so was Rätselhaftes an sich, das einen neugierig macht. Er ruhte in sich. Zwei Tage später haben wir geheiratet, ohne Rabbiner. Mit ein paar Freunden auf dem Rasen. Haben auch ein Glas zertreten. Er wollte kämpfen, aber man sagte ihm, in Bergen-Belsen habe man ihm das Kämpfen nicht beigebracht. Deshalb ließ man ihn einen Konvoi begleiten. Später hörte er, dass er einen Cousin an einem Ort namens Gusch Etzion habe. Ich bat ihn, nicht dorthin zu fahren, versuchte ihn davonabzubringen, aber er versteifte sich, sagte, er müsse einfach, denn dieser Mann sei der einzige Überlebende seiner Familie auf der ganzen Erde.
Sie weinte und gestand ihm, dass sie ihn liebe, und so was sagte man damals doch gar nicht. Er sagte ihr, sie sei die einzige Liebe, die er im Leben gehabt habe. Und erzählte, dass er allein sei, dass seine ganze Familie umgekommen war. Die Frau sah mich an und erzählte weiter: Bei Nacht, als ich schlief, ist er aufgestanden, ich sah es, ließ es ihn aber nicht merken. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und er fuhr ab. Ich weiß nicht mehr, wie, aber ich erhielt die Mitteilung, dass er in Kfar Etzion angekommen war. Zwei Tage später brachte mir jemand einen Brief, den er mir geschrieben hatte, auf Deutsch, das ich nicht verstand. Ein Mann aus dem Kibbuz übersetzte ihn mir, und ich wusste, dass es eine Art Nachruf war. Damals kam der große Angriff, das Gemetzel in Kfar Etzion, und mein Mann war bei lebendigem Leib verbrannt.
Sie brachten seinen Leichnam her. Er sollte auf dem Friedhof nahe der Palmach-Abteilung begraben werden, aber wir hatten keine Papiere, wussten nicht mal, wer er war, nur dass er Kurt hieß. Seinen richtigen Familiennamen kannten wir nicht. Sein Pass war gefälscht, mit dem Foto eines Achtzigjährigen, ein Pass, den die Hagana ihm fabriziert hatte, als Pässe für die illegalen Flüchtlingsschiffe verteilt wurden. Von der Sorte stellte man hundert pro Abend her und versah sie nach Gefühl mit Fotos.
Sie weinte nicht, sprach nüchtern. Sie sagte, diese Schallplatte müsse meine werden: Ich weiß von Kurt, dass dein Vater ihm erzählt hat, wie sehr sein Sohn, also du, diese Bach-Fuge liebt, und die ist nun zufällig auf dieser Platte, und ich möchte so was nicht mehr dahaben. Er war mein Liebster.
Ich, der Junge von damals, beneidete sie, als sie »mein Liebster« sagte. Ich ging ins Zelt zurück. Vielleicht war es heiß, vielleicht auch kalt, ich weiß es nicht mehr. Die Kumpels holten ihren tragbaren Plattenspieler hervor, öffneten ihn und legten die arabischen Platten auf, die wir letzte Nacht oder vielleicht am Morgen oder Mittag erbeutet hatten. Es waren Schellackplatten, die wir nach dem Abspielen auf den Felsen zerschmetterten. Plötzlich gingen mir diese Lieder auf die Nerven, plötzlich sehnte ich mich nach etwas anderem als Abdul Wahab mit seinem Trällern und bat, eine Platte zu hören, die ich geschenkt bekommen hatte. Ahalan wa-Sahalan , bitte schön, lautete die Antwort.
Sie lagerten auf den Lumpenhaufen, die sich damals Betten nannten, oder hockten auf dem Boden und versuchten wieder einmal, sich den Geschmack einer Tomate vorzustellen, die N., Name geändert, mit seiner ungeheuren Begabung so plastisch schilderte. Ich hörte die Platte, und mir wurde wohl ums Herz. Ich fühlte mich wieder als Kind. Im Frieden. Zu Hause bei den Eltern. Am Meer. Mit meinem Freund Amos und mit unseren Haustieren, mit den Anemonen unten auf dem offenen Feld an der Hajarkon-Straße und den gelben Feuerblumen an den Gräbern der Muslime, am Meer, ich wurde ganz ruhig.
Ich wälzte damals hebräische Wörter, dachte mir, wenn man bei KRaV (Kampf) zwei Buchstaben vertauscht, wird KeVeR (Grab) daraus. Und aus den Buchstaben von BoKeR (Morgen) lassen sich auch BaKaR (Rind) und BiKuR (Besuch) und KRaV (Kampf) und ReKeV (Fäule) bilden. Ich saß und lauschte und spielte die Platte wieder und wieder, zu den Wörtern, die mir im Kopf klangen, bis es den Kumpels zu viel wurde. Yalla , hör
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