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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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eine Geschichte. Er war der beste Geschichtenerzähler, den ich je gekannt habe. Nicht weit von seinem Dorf habe es einmal einen Kibbuz des Haschomer Hazair gegeben, begann er. Die Genossen wollten Völkerfreundschaft und luden die Araber zu ihren Festen in den Speisesaal ein. Sie tanzten mit ihnen. Liebten sie regelrecht. Er hatte einen gleichzeitig belehrenden und unterhaltenden Ton drauf. Wenn er beschrieb, wie er eine knackig frische Gurke schälte, lief uns die Spucke im Mund zusammen. Und er fuhr fort: Ein Araber dort war besonders nett, Dschamilhieß er. Die blöden Genossen küssten Dschamil, für die Welt von morgen, für die Zukunft und für die Völkerfreundschaft. Sie holten ihn in ihre Zelte, bewirteten ihn mit lauter guten Dingen und bemühten sich, ihm Lesen beizubringen, um den Ausgebeuteten Kultur zu bescheren. Aber dann ging es los mit den Kämpfen, eine bewaffnete Bande attackierte den Kibbuz, und wer, glaubt ihr, war der Anführer? Dschamil. Er kannte jeden Pfad und jedes Zelt. Dieser Völkerfreund führte seine Leute in die Zelte. Er war die Völkerfreundschaft in Reinkultur.
    N. war nicht nur ein toller Geschichtenerzähler, der Magier eines uralten Stammes, er war auch blitzgescheit, und alle lachten und nannten mich Dschamil. Noch heute begrüßen mich manche, wenn sie mir zufällig auf der Straße begegnen, mit Ahalan, ya Dschamil , und dann umarmen sie mich.
    Danach sangen wir wieder unsere Lieder. Keiner von unserem Zug, N. eingeschlossen, hat je ausgeplaudert, wer von uns seinerzeit in Bet Yuba den Jungen umgebracht hat. Auch ich wollte mich lieber nicht erinnern. Ich fragte die, die noch lebten, was gewesen war, und sie sagten, genug damit, Dschamil, nichts war, es steht doch ausdrücklich geschrieben, du sollst ein Kind nicht neben der Milch seiner Mutter töten, und wenn unser biblischer Mose das sagt, warum sollte dann jemand dagegen verstoßen?
    Nach dem Krieg wurde dieser Junge für mich zur Ikone. N. sagte: Das ist doch unwichtig, Yoram Kaniuk – so nannte er mich immer –, wichtig ist, dass es den Staat gibt und dass wir ihn mit Blut errichtet haben. Stimmt, es hat schwere Momente gegeben, aber wir waren löchrig wie ein Schweizer Käse, und weißt du, wie Schweizer Käse gemacht wird? Man nimmt Löcher und umhüllt sie mit Käse. Wer waren wir denn schon? Wir waren lebendeTote, waren Löcher von Sesamkringeln und Löcher von Käse, also was denn? Ein Kind, kein Kind.
    Ich sagte, aber ich habe den Jungen umgebracht, und er sagte, das ist nicht sicher. Wer hat ihn denn dann getötet? Der Prophet Elija? Er sagte, du hast genug geblutet, hast Kugeln in den Leib abgekriegt, freu dich, dass du lebst. Dein Dichter Natan Alterman hat geschrieben: »Sag nicht, mein Urstoff ist Staub / dein Urstoff ist aus dem Belebten, das statt deiner gefallen ist.«
    Diese starke Passage habe ich oft zitiert. Ich habe nicht von dem warmen und schalen Geruch erzählt, der dort hing. Nicht von dem Blutgeruch. Nicht von der Schmach. Nicht von der Süße der zerquetschten Feigen. Nicht von dem nebligen Morgen voll Jasminduft. Ich habe nicht erzählt, dass ich mir gleich danach das Kopfhaar abrasiert habe, mit einer alten Klinge, die Schrammen hinterließ, und dass keiner der Kumpels ein Wort über die hässliche Vollglatze verlor. Die, die um die Dinge wussten, schwiegen. Ich wusste um die Dinge. Und auch ich habe geschwiegen.

13
    Danach gab es weitere Gefechte, man kam nicht zum Schlafen. Nun, da ich diese Dinge niederschreibe, bin ich sehr alt, und mein Gehirn ist leer. Ich bin das Loch eines Sesamkringels. Ich habe nur das im Gedächtnis, was ich hier schreibe, und vielleicht habe ich manche Erinnerung mit den Jahren erfunden. Ich weiß, ich habe in Saris gekämpft, in Bet Machsir, in Kastel, in Nebi Samuel und in Colonia, auf dem Zionsberg und in San Simon, und in weiteren Gefechten, und ich bin mir sicher, dass ich dort gewesen bin, ich kann diese Kämpfe mit geschlossenen Augen vor mir sehen, aber mich selbst sehe ich nicht darin, und ich habe keine Ahnung, wer ich dort war. Habe ich das, was ich sehe, wirklich gesehen? Und wo war das Ich, das heute existiert, mit all den Tagen, die ich mittlerweile angesammelt habe? Vielleicht habe ich das ja alles nur geträumt.
    Ich erinnere mich, wie wir eines Morgens von einem Ort zurückkehrten, dessen Name mir entfallen ist. Es wehte ein kalter Wind. Wir gingen durch Jerusalem. Ständig fielen die Granaten der Jordanier, die sich auf den Anhöhen im Osten der

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