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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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innerer Horror verlieh mir den Wagemut, als hätte ich mich für Selbstmord entschieden, ich konnte mich einfach nicht weiter alle paar Minuten beschießen lassen – wir hörten die Kugeln ja aus den Gewehrmündungen fliegen, die Schüsse pfeifen, warteten auf den Tod und starben doch nicht, das heißt, die, die es nicht taten. Ich wusste, dass eine dieser Patronen mich letztendlich treffen würde. Ich hörte Kameraden schreien und sah durch die Augenschlitze die Gewehrmündungen der Schützen am Lagerfeuer, und ohne Absprache sprangen wir plötzlich zu dritt auf und rannten gemeinsam, aber jeder für sich, bergauf Richtung Maale Hachamischa.
    Zuerst begriffen die Feinde nicht, was geschah. Als sie es erfassten, fingen sie wieder an zu schießen. Sie ballerten wie verrückt, zielten vor lauter Überraschung aber wohl nicht richtig, und so konnten wir ein Gehölz erreichen und zwischen den Bäumen auf der Anhöhe verschwinden.
    Hilflos, halb tot, müde, durstig und hungrig erreichten wir das Hauptquartier im Haus Pfeffermann. Dort war kein Mensch außer einer entsetzten Krankenschwester, die uns anstarrte, als wären wir Gespenster. Sie hatte das Gefecht wohl vom Berg aus beobachtet und war erschrocken, weil wir wie Tote aussahen. Sie verband unsere Wunden, gab uns vielleicht auch Kleidung – die Erinnerungist da gelöscht –, und wir rannten los, auf der Suche nach dem getürmten Befehlshaber. Einer von uns – ich meine, er hieß Misrachi – sauste weg, um ihn zu finden und umzubringen, hörte aber, der Befehlshaber sei mit einem Kleinflugzeug zu den Kämpfen im Negev abgeflogen.
    Erst bei Nacht erfuhren wir, dass das Gefecht um Nebi Samuel im Wesentlichen ein großer Misserfolg gewesen war. Dort auf dem Berg hatte es Dutzende Tote und viele Verwundete gegeben, auch Gefallene auf unserer Seite. Ich suchte Menachem, meist sah ich ihn in der näheren Umgebung, aber jetzt war er nirgends. Ich war wohl abgetreten, im Kriegstrauma, von dem wir damals noch nicht wussten, dass es das gibt. Ich geriet völlig außer mir, bin wahrscheinlich wild herumgerannt und -gesprungen. Ich erinnere mich dunkel, dort nach meinem Freund gefahndet zu haben, der doch neben mir gestorben war. Vielleicht habe ich Wasser getrunken, vielleicht mich selbst geschlagen, vielleicht den Geier gesucht, der sich nicht mehr sehen ließ. Wir waren zu dreiundzwanzig Mann losgezogen und zu acht zurückgekommen, so meine ich wenigstens.
    Ein Kamerad, der dabei war, erzählte mir, dass man ihn losgeschickt hatte, um die Toten auf dem Berg zu inspizieren. Einige hätten selbst Hand an sich gelegt, mit einer Handgranate oder einer Kugel, berichtete er. Es herrschte dort ein heilloses Durcheinander. Die Befehlshaber waren verschwunden, wohl in Deckung gegangen. Einige Soldaten kämpften weiter, wussten ohne Anführer aber nicht recht, was tun, sie schossen, ohne zu wissen, ob auf ihre Kameraden oder auf den Feind, der überraschend zäh und fintenreich kämpfte. Man kam damals wortlos überein, dieses Gefecht nicht mehr zu erwähnen. Bis heute wahrt die Palmach das Geheimnis von Nebi Samuel. Statt dasDebakel zu untersuchen, ließ man es durchgehen. Das ist nicht gut. Heldentum liegt nicht nur im Siegen, sondern auch im Scheitern. Ein Misserfolg im Krieg oder in der Kunst oder auf jedem anderen Gebiet kann doch auch Mut und Trost spenden und den nächsten Misserfolg vermeiden helfen.
    Ein halbes Jahr später humpelte ich, mit Gipsbein, mühsam zum Elternhaus meines Freundes Menachem, in der Nähe des Tel Aviver Hafens. Seine Mutter stand vor dem Rizinusbaum, den sie auf ihrem Grundstück hatten, und sein Vater, der alte Lehrer, trug einen breitkrempigen Hut und goss einen mickrigen Baum. Ich erzählte der Mutter, was geschehen war, wie wir beschossen wurden, wie Menachem neben mir gestorben war und ich überlebt hatte, und sie grinste mich boshaft an und sagte, schade, dass es nicht umgekehrt gekommen ist.

16
    Ich entsinne mich nicht mehr, wann wir zu dem Gemetzel aufgebrochen sind, das irrtümlich als der Kampf am Kloster San Simon bezeichnet wird. An der ersten Runde habe ich nicht teilgenommen. Ich meine, ich war damals abgestellt, um in Kirjat Anavim oder in Jerusalem Munition zu sortieren, und deshalb nicht mit den Truppen weitergezogen, und ich weiß noch, dass ich deswegen Schuldgefühle hatte. Einige meiner Kameraden kämpften mit, und einer übergab mir hinterher die Uhr eines toten Kameraden, weil meine kaputtgegangen war, und die neue Uhr hatte

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