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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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immer zurück nach Tarnopol, insDunkel, zu den Gojim, zu ihren Juden. Dank der Hartnäckigkeit meines Vaters war sie gerettet worden.
    Plötzlich tanzte ich begeistert, einige Alte vergaßen sogar, dass ich ein Feind war, und klatschten mir Beifall, und die halbleere Feldflasche hüpfte an meinem Gürtel. Ich kann mich überhaupt nicht mehr an den Freund erinnern, mit dem ich gekommen war, vielleicht war er früher weggegangen. Ich fühlte mich wohl unter diesen Menschen, die überall gleichzeitig sein konnten, in Jerusalem, in London, in New York. Sie gehörten zu den klassischen Juden, die niemals eine wahre Heimat hatten oder haben werden, und ich war wütend und glücklich zugleich.
    Ich sagte zu dem Mann, der neben mir tanzte, dass wir auch für ihn kämpften, aber er spie aus und sagte, wir würden verheerendes Unheil anrichten, und ich dachte an den Cousin meines Vaters, der bei den Raffinerien umgekommen war, und an meinen Großvater, der nach seiner Ankunft aus Tarnopol eine Synagoge in Tel Aviv erbaute, wenige Monate nachdem mein Vater ihn vor dem Gemetzel gerettet hatte, das wir vorausgesehen hatten. Er nannte mich Yoiram und fragte mich in seinem aschkenasischen Hebräisch: »Gehst schoin ins Bethaus?« Danach habe ich nichts mehr in Erinnerung, außer etwas, das ich mir vielleicht ausgedacht habe und nicht geschehen ist, oder vielleicht doch: Ein Mädchen hatte sich in ein dunkles Treppenhaus verdrückt und lächelte mich an, und ich lächelte zurück und dachte, dass ich sie gern in die Arme geschlossen hätte, aber sie verschwand.

19
    An diesem Punkt, bei diesen Dingen, die ich wieder und wieder schreibe, taucht – in Hitze und Lärm und Not und Schmerz und Zorn und Staunen – ein Gedächtnisproblem auf. Was ich bisher erzählt habe, passt in einen Zeitraum von zwei Wochen: Saris, Bet Machsir, der Bergkamm Hamasrek, Dir Ayub, Nebi Samuel, die Altstadt, Kastel und noch einige Orte, wie etwa Colonia. All das lässt sich in zwei Wochen unterbringen. Aber ich schreibe hier doch über einen Zeitraum von fünf Monaten. Vor meinem geistigen Auge sehe ich nichts als Menschen, die wie Spielzeugsoldaten umfallen. In meinen Ohren liegen Tangoklänge von den Schallplatten, die wir aus den arabischen Dörfern holten. Ich erinnere mich an eine Kolonne arabischer und jordanischer Gefangener, die von Soldaten der Jerusalemer Feldtruppe der Hagana abgeführt wurden. Mit diesem Bild im Kopf kehrte ich aus dem Krieg zurück.
    Was ich mitnahm, war eine unlogische Bewegung junger Körper, deren Äußeres ich nicht sehen kann, wenn sie fallen, und sie sterben und fallen, ohne dass ich erfasse, wann sie starben und zu fallen begannen oder umgekehrt. Ich habe zum Beispiel zwei verschiedene Abläufe in Erinnerung. Beide haften mir klar im Gedächtnis. Einer der beiden ist offenbar falsch, aber ich habe keine Ahnung, was sich wirklich zugetragen hat.
    Ich erinnere mich, dass ich beim Sturm auf das Zionstorbeschossen wurde. Vorher hatten wir den Zionsberg erobert. Ich feuerte mit der Davidka, und wir beschädigten die Kuppel der Abtei. Der Einschlag blieb noch jahrelang sichtbar. Wenn ich nach Jerusalem kam, sagte ich zu meinen Begleitern: Schaut, ich habe das Dach da angeschossen. Quasi, big deal! Quasi, was war ich doch für ein Held. Ich habe ein Dach hochgehen lassen, das schöner ist, als ich es je sein werde.
    Der Feind floh, und wir warteten dort auf den Morgen. Ich weiß nicht, warum wir warteten. Die Sonne ging auf, und es wurde warm. Wir ordneten uns zur Kolonne, und ich meine, Dado hat gesagt, dies sei eine historische Stunde, nach zweitausend Jahren kämen wir zurück zum Tempelberg, dem Fels unserer Existenz, in die Altstadt, zur Davidstadt. Wir setzten zum Sturm auf das Zionstor an, und zwei Kugeln erwischten mich am Bein, machten ritsch-ratsch, und ich fiel vor der Stadtmauer auf den Rücken.
    Es tat schrecklich weh, und ich konnte mich nicht rühren. Die Kämpfer sahen mich nicht fallen und hasteten weiter. Vielleicht gab es noch zwei Verwundete in meiner Nähe, aber die Sonne blendete mir die Augen. Als ich sie aufschlug, sah ich auf der Mauer einen Mann mit der rotgemusterten Kefiya der Arabischen Legion ein Gewehr auf mich richten, oder vielleicht war es eine Maschinenpistole. Das Licht wurde heller. Ich sah eins seiner Augen auf mich gerichtet. Das andere fixierte mich wohl durchs Visier seiner Waffe. Ich trug meinen weißen, britischen Matrosenanzug und erfasste – ich weiß nicht, wie –, dass der Mann

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