1948 - Roman
Engländer war, also Offizier sein musste.
Er rief nicht. Er sagte kein Wort. Vielleicht zwanzig Meter trennten uns, und ich wusste, das war das Ende. Er hatte auf mich geschossen und meinen Tod verfehlt, undjetzt würde er das korrigieren. Das tut ein Soldat. Ein Soldat tötet. Ich konzentrierte mich, so meine ich, auf das offene Rund der Mündung. Ich erinnere mich, dass das Rund größer aussah, als es sein konnte. Ich wartete. Das war alles, was ich tun konnte. Mein Bein blutete noch immer. Wenn ein junger Mensch auf den Tod wartet, ist das was ganz anderes als im Alter.
Fast sechzig Jahre später wartete ich auf einen anderen Tod, der tatsächlich kam, mich aber nicht unterkriegte. Ich dachte, dies sei das Ende, fand es sogar angenehm, nicht in mein armseliges Leben zurückzukehren. Aber damals im Krieg, in meiner Jugend, stand ich noch am Anfang. Ich hatte nur eine Zukunft, und es gab keine Gegenwart außer dem Tod. Ich wusste nicht, was Enden sind. Kannte nichts außer Zitaten von Schlonski, Bialik, Spinoza, Dostojewski, aus dem Unterricht von Tony Halle, der Gründerin des »Neuen Gymnasiums«, das wegen seiner revolutionären Gründerin und der vielen Genies unter seinen Absolventen heute nach Rabin benannt ist. Ich begriff damals nicht, was der Tod war, der mich in der nächsten Sekunde erwartete. Ich hatte den Kopf voll Stroh.
Ich stand im Begriff, mein Leben zu beginnen, vielleicht sogar ein Mädchen zu küssen, wusste jedoch, dass ich nur noch ein oder zwei Minuten zu leben hatte, und ich erinnere mich, als geschähe es eben jetzt, an meine flehentliche Bitte an die Gewehrmündung, dass es schon kommen möge, an die sehnliche Erwartung, dass es vorüber sein möge und ich nicht mehr warten müsste, erinnere mich, wie mein Körper das Ende herbeiwünschte. Ich sah mein Blut rinnen und die schöne Mauer im grellen Sonnenlicht gleißen, sah das Farbenspiel und das Auge des Mannes, und vielleicht wollte ich ihm etwas zurufen, aber mir versagte die Stimme. Ich schloss die Augen, um dasEnde nicht zu sehen, und hatte in dem Moment keine Angst mehr. Dafür behielt ich die Angst mein Leben lang, schreckte jahrzehntelang immer wieder aus Alpträumen auf, sah schwitzend in die Mündung, und dann war sie weg.
Ich drückte die Lider fest zu, hatte wirklich keine Muße zu warten, und vielleicht dachte ich, vielleicht auch nicht, dachte vielleicht auf Vorschuss, ich würde nicht spüren, wie die Kugel, die mich erwartete, in meinen Kopf einschlüge und wie ich ein paar Sekunden lang lebendig unterwegs zu meinem Tod sein würde, und dann – ich habe keinen Schimmer, wie viel Zeit verging – schlug ich die Augen auf und staunte. Da war kein Tod. Da war kein neues Blut. Der Schmerz saß an seiner alten Stelle. Kein Lauf richtete sich mehr auf mich, keine Kefiya ließ sich blicken, der Mann war einfach verschwunden.
Das war der unerklärlichste Moment meines Lebens. Was tue ich hier? Der Schmerz, den ich spüre, das bin ich. Ich bin der Tod, der von mir in den Schmerz und in die Erde unter mir gewandert ist. Die Sonne hatte mich geweckt, ich fühlte mich erleuchtet, und erst Jahre später versuchte ich herauszufinden, wer der Mann gewesen war.
Er rief mich an, als ich 1950 in Paris war. Wir unterhielten uns viel, und ich wusste doch nicht recht, wer er war. Ich erfuhr, dass er tatsächlich als Engländer im Dienst seiner Majestät, König Abdallahs, gestanden hatte. Er sagte mir, wegen des Lichts und der weißen Uniform hätte ich ihm damals wie ein schöner Engel Gottes ausgesehen. Hätte wie Jesus mit ausgebreiteten Armen dagelegen. Er habe das Blut aus meinen Wunden quellen sehen und mich für Jesus am Kreuz gehalten. Er sagte mir am Telefon: Vielleicht hatte ich die Nacht zuvor, alsihr das Zionstor erobert habt, einen über den Durst getrunken. Ich sah dich an und wusste, dass ich auf dich gezielt, aber dein Bein getroffen hatte. Ich hätte das Werk vollenden und dich töten müssen, du lagst da wie ein kleiner weißer Teppich, aber ich konnte dich nicht umbringen. Ich bin Freund und Feind. Ich habe dich zu töten versucht, aber auch gerettet. Habe dich geliebt und gehasst. Ich dachte, du wärst gestorben, und sagte, ich hätte einen hübschen Jungen am Tor erschossen, aber es hieß, man habe keine Leiche gesehen, und ich dachte, es hat sie wohl jemand abtransportiert.
Diese Geschichte ist bereits geschrieben. Und ja, ein Mann hat mich kontaktiert. Er wusste, was mir geschah. Er warnte mich. Er wusste Dinge
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