1948 - Roman
einer Schlichtheit, die ihrer Schönheit keinen Abbruch tat. Im Krieg vertagten sie die Träume auf eine andere Zeit, aber ein Freund von mir hielt der Verlockung nicht stand, trotz des Natrons, das man uns verabreichte, »um den Geschlechtstrieb zu unterdrücken«, wie man das damals nannte. Dieser Freund, der kein richtiger Freund war – wir alle waren damals Freunde oder Genossen, ein bisschen wie bei der Buskooperative Egged, hatten ein paar gemeinsame Fotos, bis jeder von uns allein für sich blieb –, dieser Freund also traf ein Mädchen, machte ihr ein Kind und wurde Vater in einem Alter, als wir noch dachten, wenn wir wieder heimkämen, würde unsere Mama uns füttern.
Eine junge Frau brachte den Kämpfern Wasser oder Milch, ich weiß nicht mehr, wo das war. Ich sah in ihr denInbegriff jener Unschuld, die uns abhandengekommen war, und sie hielt Schönheit und Macht vielleicht nur für eine Option. Sie war vermutlich Zionistin. Glaubte an die Reinheit der Seele. Der mentale Blickwinkel vermeidet Pathos. Die Augen trafen auf das bloße Knie, aber das Knie entblößte sich nicht wie heute, um Fleisch zu verkaufen, nicht wie heutzutage, wo die Frau wie Fleisch am Fleischerhaken auf dem Markt zur Schau gestellt wird, gänzlich entblößt. Das Knie war nackt wegen des Wetters, und weil es sich angenehm anfühlte, wenn der Wind dir das Bein streichelte und sanft mit ihm spielte. Man sang damals: Der Wind spielt mit dem Saum ihres Kleides. Und dieses Spiel, das Vergnügen, heißt im Hebräischen auch Zerstreuung, und das Mädchen ist für immer in meiner Erinnerung eingefroren, geht allein zwischen den Sandsäcken umher, verschämten Blicks, die Bluse geschlossen, auf dem Kopf einen Stahlhelm, vielleicht ein Beutestück, und sie lächelt scheu, schüchtern, hat etwas Süßes, Bescheidenes an sich, aber auch Stärke. Sie wurden seinerzeit weiblicher, aber auch stärker. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig. Ein Mädchen war damals wie ein Blumenkranz mit Dornen umwoben. Ihr unschuldiger und süßer und trauriger Blick war Teil eines Geheimnisses. Sie war das, was von der jugendlichen Anmut des Staates übriggeblieben war.
18
Eines Tages erfuhren wir, dass die Briten das Generali-Versicherungsgebäude in »Bevingrad«, ihren größten Gebäudekomplex in Jerusalem, aufgeben würden. Wir fuhren hastig mit Panzerwagen und Lastern in die Stadt und warteten auf ihren Abzug, verpassten aber den entscheidenden Moment. Die Jerusalemer hatten, kaum dass die Briten draußen waren, das Gelände gestürmt und die meisten Klamotten mitgenommen. Als ich in meinen dreckigen Lumpen ankam, fand ich nur noch einen weißen Matrosenanzug mit Litzenkragen, wie wir sie als Kinder getragen hatten, wenn wir uns in der Tel Aviver Nachlat-Benjamin-Straße fotografieren ließen.
Ich ging mit jemandem – ich meine, es war Avinoam – auf offener Straße, das war nett, die Granaten regneten massenweise auf uns nieder, aber wir achteten nicht darauf. Traf uns eine, dann hatte sie uns halt getroffen, und die Experten sagten damals, beim Tod hätte jeder seine Nummer. Wir holten nach jedem tödlichen Schlag das einzige Foto unserer Einheit hervor, von dem ich nicht mehr weiß, wer es wann aufgenommen hatte, kreuzten die Toten darauf aus und sahen uns an, wohl wissend, dass man uns morgen oder übermorgen ebenfalls durchstreichen könnte. Ich stellte mir vor, welch penetranten Leichengeruch ich entwickeln würde, und schon war der nicht mehr imaginär, sondern höchst real, denn vor einer Ladentür lagen Leichen. Wir verirrten uns und gelangten nach Mea Schearim.
Es war ein nebliger Morgen oder grauer Nachmittag. Ich erinnere mich, dass uns das Gehen schwerfiel, als bremsten die Druckwellen der Geschosse unsere Schritte. Kein Mensch achtete auf die Leichen vor der Tür, und die Sinne gerieten in einen Taumel des Grauens, ganz ohne wohliges Gruseln. Wir gelangten an einen Ort, der mir rätselhaft war. Ich war mal mit meinem Vater da gewesen, der gern alte Bücher in Klöstern und chassidische Schriften in Mea Schearim kaufte. Für einen gebürtigen Tel Aviver ist Mea Schearim, diese alte, feindselige, furchterregende Bastion der Strenggläubigkeit, sehr fremd. Die weißen Kapitulationsfahnen wehten noch auf den Dächern. Einige Passanten schrien uns an, wir seien Gotteslästerer und würden eine Heimat für die Ungläubigen bauen. Ich blickte sie an. Sie hörten die Granaten und wussten, dass jede Granate einen Adressaten hat und dass sie,
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