1948 - Roman
Gefühle mehr zu haben. Die Menschenleere, die ich bei meiner Ankunft bemerkt hatte, setzte mir zu, hinterließ aber kein Trauma. Wir blieben ein paar Tage in Ramla, und inden unheimlich stillen Nächten war mir, als hörte ich den Beton schwingen. Spätnachts kamen die hungrigen Schakale und belagerten heulend die Stadt.
Zwei, drei Tage nach meiner Ankunft humpelte ich langsam zur Nachbarstadt Lud, die damals ebenfalls menschenleer war. Ich ging zur alten Bahnstation. In meiner Kindheit waren wir über Lud, das alte Lydda, nach Haifa gefahren. Es war der größte Bahnhof des Landes und der einzige, an dem die Züge das Gleis wechseln konnten. Von klein an erinnere ich mich an den Geruch verbrannter Kohle, vermischt mit dem Geruch syrischen Majorans, an den Duft der Zitrushaine rings um die Stadt, den Duft zu Boden gefallenen Johannisbrots, den Duft von Lavendel und Beifuß, erinnere mich an die Schönheit der wildwachsenden, majestätischen lila Bougainvilleen und an die beturbanten Händler, die am Eingang zum Bahnhof ihre Zimbeln schlugen und mit rhythmischen Schreien riesige aromatische Sesamkringel feilboten.
Ich machte einen Rundgang durch das leere Lud. Der einzig verbliebene Geruch war der nach Rauch, Erde und Staub. Die Lokomotiven standen noch dort, aber ohne die Züge, die schon nach Tel Aviv überführt worden waren. Die Loks sahen aus wie riesige eiserne Ochsen. Krähen krächzten allenthalben auf der Suche nach verwesendem Fleisch. Ich ging langsam über die Felder zurück. Es war heiß. Sommerblumen siechten unter dem Distelteppich. Ich sah weggeworfene Kleidungsstücke, verdorrte Schuhe, abgefallene Mützen, die langsam verblichen. Im Hinterkopf hallte mir nun das Trappeln der flüchtenden Schritte. Hier und dort wuchsen wackere Mohnblumen, die noch vom Frühling übriggeblieben waren. Idyllische Ruhe lag über dem dürren Land und der anhaltende Geruch von Rauch und Verwesung.
Neben einer langen Stacheldrahtrolle am Wegrand sah ich Menschen, viele Menschen, eng gedrängt. Die Frauen weinten, jammerten und flehten. Kinder brüllten vor Wut und Schmerz. Die Männer schrien, und auch sie weinten und kreischten. Ich ging auf sie zu. Als ich näher kam, tauchte ein israelischer Soldat auf, dem ich an Farbe und Schnitt seiner Uniform ansah, dass er erst kürzlich eingezogen worden war. Er schlotterte vor Angst und wusste kaum, wie er die Sten halten sollte. War wohl unsicher, ob ich Feind oder Freund war. Er befahl mir in holprigem Hebräisch, sofort wegzugehen und nach Ramla zurückzukehren. Ich wollte den Befehl verweigern, hatte aber keine Waffe, und letzten Endes schaffte er es, die Sten auf mich zu richten. An seinen Augen las ich ab, dass er wohl nicht schießen wollte, aber ungeübt, wie er war, konnte er mich unabsichtlich treffen. Ich fragte ihn, wer diese Menschen seien, die mich sehnlich anblickten, um meine Aufmerksamkeit zu erheischen und mich um Erbarmen zu bitten. Der Soldat sagte: Die sind nix! Araber! Wollen zurück nach Ramla. Dürfen aber nicht.
Ich fragte ihn: Wer hat das verboten, es ist ihre Stadt gewesen. Er antwortete: Sei kein Dummkopf, sie ist es nicht mehr. Er lächelte mich an, als hielte er mich für geistesschwach. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich bei Betreten der Stadt diese Leere nur formal wahrgenommen hatte, ohne wirklich zu bedenken, was vor der Leere da gewesen war. Jetzt hatte sie ein Gesicht bekommen, Fleisch und Blut angenommen. Kleider. Kinder. Alte Frauen, die in den Disteln lagen und schrien. Flehende Männer in Anzügen, aber nicht immer mit Schuhen. Schmerz. Heimweh. Erniedrigung. Ich war ein Mittäter und hatte das Gefühl, dass mein Gewissen, das mich in meiner Jugend stets verlässlich begleitet hatte, im kritischen Augenblick eingedämmertwar. Aber was hätte ich denn tun sollen? Den Soldaten eines Staates bekämpfen, zu dessen Gründung ich eben erst beigetragen hatte?
Unser Vorgesetzter sah mich in Ramla ankommen und kotzen und sagte zu mir (und ich muss zugeben, dass einiges Mitgefühl in seiner Stimme mitschwang): Die da sind Abwesende in Anwesenheit. Ich fragte, was? Und er wiederholte: Abwesende in Anwesenheit!, ein Begriff, der später gesetzlich verankert wurde. Ich begriff nicht, was dieser Ausdruck bedeuten sollte. Die monströse Wortverbindung »Abwesender in Anwesenheit«, die sich bis heute anhört, als sei sie einem Science-Fiction-Roman entnommen, überstieg meine Vorstellungskraft. Jeder Araber, der vor dem 14. Mai 1948 eine
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