1948 - Roman
geboren wurden, wussten nicht, wie ein Haus aussieht, das nicht vonStacheldrahtzäunen umgeben ist. Kein Mensch hatte ihnen die Häuser hier übergeben, sie drangen gewaltsam ein, waren stärker als wir Israelis. Verglichen mit ihnen waren wir wandelnde Witzfiguren, bliesen uns auf und taten wichtig, weil wir irgendeinen Mickymaus-Krieg gewonnen hatten. Für sie bedeutete Krieg Wehrmacht, Nazis, Gestapo, Panzer, Güterzüge, graue Baracken und auf zu Gott durch die Krematorien. Sie hatten einen Krieg durchgemacht, den wir nicht mit Nahkampf, miesen tschechischen Waffen, Lagerfeuern und Kumpels hätten gewinnen können, ob nun mit Palmach-Liedern oder ohne. Sie spürten, dass sie elende Gestalten waren, und sie hatten gewonnen, weil sie noch lebten. Sie räumten die Stacheldrahtzäune ab, wie Kinder Schokoladenpackungen aufreißen. Sie nahmen sich ihr Teil. Sie blieben.
21
Als wir eines Abends in Ramla noch auf irgendwas Unbestimmtes warteten, kam ein Befehlshaber und erklärte, wir sollten die Speerspitze des neuen »10. Bataillons der Palmach« werden und am nächsten Morgen nach Abu Gosch aufbrechen. Da mittlerweile noch ein paar Jeeps dazugekommen waren, die man bei anderen Einheiten geklaut hatte, fuhren wir in einer Jeepkolonne über die Burma-Straße nach Abu Gosch. Neben uns rollte eine Lasterkolonne, die Lebensmittel nach Jerusalem beförderte. Einige von uns kletterten während der Fahrt auf die Lastwagen und holten Eier, Brot, Salzfisch, Reis und wer weiß was noch runter. Schließlich erreichten wir das große, menschenleere Dorf. Die Häuser waren verlassen, aber hier hing ein anderer Geruch in der Luft als in Ramla – der Geruch von Verrat. Der Geruch eines Dorfes, das bestehen bleiben musste, weil seine Bewohner als Einzige in der Gegend den Juden geholfen hatten.
Wir verbargen die Jeeps zwischen den Olivenbäumen und richteten uns in einigen leeren Häusern ein. Es kamen noch weitere Soldaten, die ich nicht kannte, Flüchtlinge aus allen möglichen aufgeriebenen Bataillonen. Einer mit Kippa las im Machsor . Er ging weg, um sich was zu essen zu suchen, und ich blätterte in dem Gebetbuch für die Hohen Feiertage. Als Junge hatte ich gelegentlich darin gelesen. Ich stieß auf die Zeile: »Sie, die Wurzel unseres Volkes, die der Kinder entbehrte.« Die Zeile bliebmir im Gedächtnis hängen. Ich verstand sie nicht, aber sie packte mich an einem verborgenen Punkt, den ich erst Jahre später entdecken sollte. Der Kumpel hatte auch eine Bibel, ich blätterte darin und las in Hesekiel: »In deinem Blute lebe! Und ich sprach zu dir: In deinem Blute lebe!« Und ich empfand tiefe Trauer. Trauer über mich. Über uns. Über das 10. Bataillon, von dem so viele bald sterben würden.
Früher hieß es mal, Wagners Musik sei besser, als sie sich anhöre. Die Tage in Abu Gosch waren angefüllt mit Leere. Benny Marshak hatte ein Quartett angebracht, das für die Soldaten spielen sollte. Den einen Geiger und den Bratschisten schickte er zu dem einen Bataillon, den zweiten Geiger und den Cellisten zu einem anderen. Ich sagte ihm, ein Quartett sei eine Art des Zusammenspiels, eine Musikergruppe, die gemeinsam aufträte, eine Einheit, aber er sagte, er hätte keine Zeit für die Wunder der Musik, und ein Konzert sei nicht der Pentateuch. Er hatte auch Schallplatten von Beethovens Fünfter aufgetrieben, sechs Platten pro Set, von denen er zwei hierhin und zwei dorthin und noch zwei zu einem weiteren Bataillon schickte.
Wir saßen herum und warteten. Die Menschenleere wirkte bedrückend. Die Warterei schlug auf die Nerven. Warum hatte man die Leute hier vertrieben? Schließlich tauchte ein Offizier auf und sagte, Ben Gurions Assistent habe die Rückführung der Einwohner von Abu Gosch angeordnet, da ihnen Unrecht geschehen sei. Die Araber zogen also wieder ein, und wir zerstreuten uns. Ich wurde zum Gruppenführerlehrgang nach Dschoara geschickt. Dort fiel ich vor Schmerzen in Ohnmacht, und man stellte fest, dass mein Bein noch keineswegs abgeheilt war, und entließ mich nach Hause.
Wieder daheim, hielt ich mich als Erstes an die Vereinbarung,die wir im Krieg so oft wiederholt hatten: Ich ging zum Mughrabi-Platz und stellte mich vor die berühmte Telefonzelle, über die wir immer witzelten, nach den Gefechten würden wir uns, alle Überlebenden gemeinsam, darin versammeln, und tatsächlich kamen noch ein paar Leute, und wir gingen zusammen in die enge Zelle.
Damals begann eine ungewisse und peinliche, schreckliche und
Weitere Kostenlose Bücher