1948 - Roman
besetzte Stadt verlassen hatte, um jemanden zu besuchen, etwas einzukaufen, zu einem Verwandten ins Ausland zu reisen, und davon zurückkehren wollte, war quasi nicht hier gewesen, als er wegfuhr. Er war anwesend, weil er da war, und abwesend, weil er weg gewesen war.
Zwei Tage später, kurz bevor wir in den Negev verlegt werden sollten, wo die Kämpfe wieder ausgebrochen waren, tauchte aus der Dunkelheit eine Lastwagenkolonne auf. Es waren alte Laster, das laute Rumpeln ihrer Räder war von weitem zu hören. Sie zerrissen die Stacheldrahtrollen, als wären es Wattebäusche, und die Soldaten, die Ramla bewachten, nahmen vor ihnen Reißaus. Die Lasterkolonne donnerte durch die leeren Straßen der Stadt, störte Ramlas Nachtruhe. Als die Fahrzeuge hielten, sprangen Menschen heraus, derengleichen ich noch nie gesehen hatte. Mitten im erez-israelischen Sommer trugen sie mehrere Schichten dunkler, ausgefranster, zerrissener, verblichener Winterkleidung übereinander, dazu komische Hüte, Schirmmützen und Baretts wie in alten Filmen. Sieschrien und redeten in vielen Sprachen durcheinander: Bulgarisch, Polnisch, Russisch, Griechisch, Jiddisch, Deutsch. Sie zerrten kreischende Kinder an den Händen und schleppten misstrauisch ihre abgewetzten Koffer. Es sah aus, als wären Heuschrecken über die Stadt gekommen. Sie gingen nicht auf die leeren Häuser zu – sie stürzten sich drauf! Sie erstürmten sie hungrig, gierig, während die Eigentümer fern hinterm Zaun standen, sich sehnlich zurückwünschten oder vielleicht schon resigniert hatten und in langen Strömen ins Ungewisse zogen.
Diese Juden, die da kamen, waren mit Krankheit geschlagen. Sie waren verbittert und bemerkten gar nicht die Leere der Häuser. Bar jeder Romantik, verloren sie keinen Gedanken an Recht und Gerechtigkeit, und anders als ich kotzten sie nicht aus gekünstelten Gewissensgründen. Sie suchten sich einen Platz unter der Sonne! Die arabische Sache war ihnen fremd. Interessierte sie auch nicht. Auf meine nervenden Fragen antworteten sie: Wenn diese Flüchtlinge einen Ort haben, an den sie gehen können, dann sind sie doch fein raus! Wir haben über zehn Jahre hinter Stacheldrahtzäunen verbracht. Was versteht ein Sabre wie du schon davon!
Sie zeigten keinerlei Interesse für ihre Umgebung. Alles war ihnen fremd: die Hitze, die blühenden Chrysanthemen, die Kamele, die Kaktushecken, die Gerüche, die Esel, die gleißende Sonne. Als ich sah, dass mehrere Familien sich auf das Haus stürzen wollten, das wir gleich räumen würden, erblickte ich Menschen, die einer anderen Kosmologie entstammten, über moralische Erwägungen jeglicher Art hinaus waren. Sie kamen aus dem Mülleimer der Geschichte. Sie hatten recht, weil sie überlebt hatten und sich daher für zu große Sünder hielten, um sich als Richter aufzuspielen.
Sie warfen weg, was ihnen nicht passte, aßen, was sie an Lebensmitteln in den Kühlschränken fanden, nahmen Kleidungsstücke aus den Schränken und Kommoden, falteten sie zusammen und packten sie ein, als müssten sie bald weiterwandern. Sie entzündeten Lagerfeuer auf den Höfen und rösteten das Fleisch der Schafe, die sie auf den Feldern einfingen. In den zwei Tagen bis zu meinem Weggang wurde ich Zeuge, wie fünfzehnhundert Menschen, vielleicht mehr, sich in der fremden Stadt einrichteten, deren Namen sie noch nie gehört hatten und kaum richtig aussprechen konnten, und in der sie sich doch mit dem Moment ihres Eintreffens als die wahren Hausherren fühlten.
Sie waren ständig auf Trab und trieben schwungvollen Handel. Sie liefen mit Armbanduhren unter den Jackenärmeln herum und verkauften Goldzähne und Ringe, Zigaretten Marke Player’s und Craven A und Kondome. Sie hatten einen tiefen Hass auf die Welt, den ich nicht ausloten konnte. Sie waren wie ein Rudel Schakale von den schwarzen Bergen. Menschen, die dem Inferno entstiegen waren, um wieder einzutreten in die Geschichte, die jammernd und geschlagen auf den Stacheldrahtzäunen lag.
Der Anblick der Juden, die jedes Haus in Beschlag nahmen, war grauenhaft, aber auch von einer menschlichen Schönheit, die sich jedem Urteil entzog. Diese Leute hatten in den dreißiger oder frühen vierziger Jahren letztmals ein eigenes Zuhause gehabt. Sie sagten, und ich erinnere mich an solch ein eindringliches Gespräch in gestelztem Hebräisch: Anders als die Araber hatten wir keine Nachbarländer, in die wir hätten gehen können! Diese Kinder hier, die in deutschen oder britischen Lagern
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