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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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lang genug. Er spürte mich und wandte mir seine blinden Augen zu, und ich meinte, ein Lächeln in seiner Blindheit zu sehen. Man sagte mir, dass man ihn früher mal »König von Jerusalem« genannt hatte.
    Nach einigen Tagen begannen meine Wunden zu heilen. Dauernd hörten wir Granaten in der Stadt einschlagen, hörten Schreie aus allen Richtungen. Wir redeten kaum miteinander. Jeder lag in einer Blase von Schmerz. Wir bekamen ein Glas Wasser pro Tag. Irgendein alter Heini mit Gitarre kam an und sang ein bescheuertes Lied, nach dem Tenor: Morgen um sieben (scheva) erwartet dich dort Elischeva, und der Krieg ist ein Traum voll Blut und Tränen.
    Kaum hatte der blöde Komiker die Gitarre abgesetzt, fing er auch schon an, Witze über einen Engländer, einen Franzosen und einen Juden im Puff und dergleichen zu erzählen, ließ weitere Uraltwitze folgen, und schließlich verstummte er und funkelte uns böse an, sah aus, als wolleer uns gleich umbringen, und fragte ärgerlich: Warum klatscht ihr nicht wenigstens Beifall, ich mach das gratis und nur für euch. Aber wir konnten nicht lachen, und er schrie verzweifelt, nun klatscht doch, ihr Scheißkerle, ich geh und komm nicht wieder. Ich sagte ihm, das sei eine großartige Nachricht, und er blickte mich wütend an und blaffte: Hast du denn gar kein Mitleid mit einem, der hart arbeitet? Ich mach hier die Runde und kann all diesen Schmerz kaum mit ansehen. Ich möchte euch ein bisschen aufheitern, warum lacht ihr dann nicht, wenigstens mir zuliebe, oder klatscht in die Hände. Aus einer fernen Ecke des Saals rief einer: Guter Mann, wir klatschen nicht in die Hände, weil wir keine Hände mehr haben, und der König von Jerusalem röchelte, erschieß mich, erschieß mich, und ich verspürte starke Schmerzen. Der Komiker zog traurig ab, obwohl ich gestehen muss, dass eine der Schwestern Tränen gelacht hatte und ein Arzt sagte, der Mann sei ungeheuer lustig. Später wurde ich abtransportiert und fand mich im Operationssaal wieder. Mittlerweile waren Narkosemittel eingetroffen, man öffnete mir erneut die Wunde, ich schlief ein und erwachte auf der Matratze neben dem König von Jerusalem, und die Zeit schlich weiter dahin.
    Eines Nachts sahen wir ein paar Ärzte zusammen ankommen. Sie blickten uns an. Wir stellten uns schlafend oder schliefen vielleicht wirklich und erwachten von der leisen Geschäftigkeit. Später erfuhren wir, dass sie dem König von Jerusalem gemeinsam eine Todesspritze gegeben hatten. Sein Bruder schoss mit der Pistole in die Luft und rief, zum Gedenken an den König, und weinte, und eine Schwester kam, um mir was zu spritzen, und einen oder vielleicht auch mehrere Tage später saß ich unversehens in einem Panzerwagen, der mich mitten durch diebombardierte und menschenleere Stadt zur Pension Bickel im Viertel Bet Hakerem kutschierte.
    Sicher war es dort mal schön und gemütlich gewesen. Aber mit all den Verwundeten und Krankenschwestern, den überlasteten, stinkenden Toiletten ohne Wasser und mit einem Rattenfraß war die Unterkunft eine Art Schlachthaus, wenn auch mit Seife. Das Haus duftete nach den feinen Seifen der Erholungsheime, einem Überbleibsel aus den guten alten Zeiten. Aber was sollte man mit all den lieblich duftenden Seifen anfangen, ohne Wasser? Die Seifen dienten nur noch dazu, den Gestank auf den Toiletten ein wenig zu lindern.
    Für die meiste Zeit wurden wir ins Freie gebracht, und wer konnte, kroch über den Rasen. Der Geschützdonner war auch hier zu hören. Rauchschwaden stiegen auf. Wir waren nicht mehr viel wert. Wir konnten nicht mehr kämpfen. Die Nation hatte damals kaum Verwendung für halbtote Verwundete, die ihr auf der Seele liegen würden. Wir wünschten uns eine frische Tomate, eine Wassermelone statt trockener Blätter und Brotkrumen und einer mickrigen Gurke. Wir lagerten wie dürre Rinder auf dem vergilbten Rasen, der uns stach, weil er seit Wochen kein Wasser mehr bekommen hatte, und sinnierten wütend, was aus uns geworden war. Frühmorgens lag es sich gut in den Tauschwaden. Später kletterte die Sonne höher und trocknete die Halme, aber Vögel kamen keine mehr. Sie hatten Angst und hassten uns, weil wir sie nicht füttern konnten. Kein einziger Offizier, Soldat, Bürgermeister, Palmach-Oberster kam uns besuchen. Wir waren an die hundert Mann dort, waren nicht nur von unseren Elternhäusern abgeschnitten, sondern auch von unseren Kameraden, die weiterkämpften.
    Ich erinnere mich kaum, was wir dort genau

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