1954 - Flugziel Chearth
Kopfrandmigräne. Alle elf Tage. Schon der Gedanke daran jagte neue Hitzewellen durch ihren Körper. Es war verrückt - warum konnte nicht alles so bleiben, wie es immer schon gewesen war? „Tuyula, geht es dir nicht gut? Die Anstrengung war zu groß für dich. Ich werde einen Medo rufen."
„Nein!", schrie sie schrill, in einer Tonlage, die der Gharrer nicht hören konnte, aber daran dachte sie gar nicht. Schräg von unten herauf fixierte sie den massigen Fünften Boten von Thoregon aus zwei Augen. Er war noch so ein Vater, wie sie gerne einen gehabt hätte, egal welchem Volk er angehörte. Das Äußere interessierte sie nicht. Sonst hätte sie ihre Mutter lieben müssen, aber. das konnte sie nicht. Nicht nach allem, was ihr angetan worden war. Immer waren es Fremde gewesen, die sie beschützt und zu ihr gehalten hatten.
Die Hitze wich einem schwer zu beschreibenden Frösteln, das nicht nur ihren Magen in Aufruhr versetzte. Jede einzelne Haarwurzel ihres blauen Flaums schien sich zusammenzuziehen und aufzurichten. Am liebsten hätte sie sich herumgeworfen und wäre schreiend davongerannt - sie konnte es nicht. Weil es Vince noch elender ging als ihr selbst. Trotz ihrer Kopfrandmigräne. Sie war jetzt in dem Alter, in dem sie Kinder bekommen konnte, doch sie wollte keine Kinder. Weil sie fürchtete, alles falsch zu machen, so, wie ihre Mutter alles falsch gemacht hatte.
Mhogena redete auf sie ein. Tuyula verstand nicht, was er sagte, sie hörte auch gar nicht richtig hin, sondern starrte Vincent an, auf dessen vernarbter Haut Schweißtropfen glänzten. Unter seinen Lidern rollten die Augäpfel, als müsse er jeden Moment aufwachen. „Vince!" Tuyula Azyk erschrak über den Klang ihrer Stimme, deren Vibrieren Sehnsucht und Verlangen gleichzeitig bedeutete - so, wie sie sich als Kind nach der Heimatwelt gesehnt hatte. Im nächsten Moment schien sich ein glühendes Eisen durch ihren Leib zu bohren. Der jähe Schmerz war fast unerträglich. Tuyula taumelte. Sie hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Sollte das künftig alle elf Tage geschehen? Ein grässlicher Gedanke. Die Natur war ungerecht. „Nein!" schrie sie Mhogena an, der sich ihr zuwandte, und wich bis an den Rand der Antigravliege vor ihm zurück. „Ich bin nicht krank, versteh das doch." Er machte sich Sorgen. Das spürte sie. Aber er sollte sich keine Sorgen machen, nicht ihretwegen, das wollte sie nicht. Nie hatte sich jemand wirklich um sie gekümmert, bis die Terraner gekommen waren und nach ihnen Vincent Garron. Dass Vince sie manchmal geschlagen hatte nahm sie ihm nicht mehr übel. Auch nicht, dass er sie immer wieder enttäuscht hatte. Er wusste es eben nicht besser. Aber er war auch nett zu ihr gewesen.
Vince hatte sogar richtig nett sein können, und das wollte sie wiederhaben.
Sie mochte ihn auf eine nicht zu beschreibende Art und Weise. Mittlerweile traute sie sich sogar, ihn immer häufiger „Vince" zu nennen, nicht nur „Vincent". Dabei hatte der Mutant ihr damals sogar gesagt, sie solle nie „Vince" zu ihm sagen. Das war nun vorbei. Tuyulas zarte Finger klammerten sich um Garrons Handgelenke. „Wach auf!" keuchte sie. „Zeig uns, dass du deinen Dämon besiegen konntest - und wenn nicht du, dann hoffentlich Mhogena." Der Fünfte Bote war hinter ihr stehengeblieben. Als wolle er abwarten, was geschah. Gleichzeitig erschien es Tuyula, als wachse ihre Euphorie. Tu mir den Gefallen, Vince, schoss es ihr durch den Sinn. Wir könnten wie eine Familie sein. Ich habe doch niemanden außer dir, und du brauchst mich. Wer soll deine Kräfte in friedliche Bahnen lenken, wenn nicht ich?
Wie weggewischt waren alle Schmerzen, egal, ob echt oder eingebildet. Tuyula verstand instinktiv, dass der Gharrer ihr half, indem er alle positiven Emotionen auf sie zurückfließen ließ. Lange hatte sie sich nicht mehr so wohl gefühlt. Sekunden vergingen, bis sie registrierte, dass Vince sie anschaute. Der Todesmutant hatte die Augen geöffnet und zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, weil er dann besser sehen konnte. Garron war wach. Endlich. Aber nur seine Augen bewegten sich. „Vince, hörst du mich? Alles wird gut werden." Sie redete ins Leere. Vincent Garron hatte es vorgezogen zu teleportieren. Hinter ihr ertönte ein jämmerliches Stöhnen. Auf dem Absatz wirbelte das Bluesmädchen herum.
Der Mutant hatte es nicht weit geschafft. Wimmernd und sich krümmend lag er vor dem Schott, weil der vom Syntron aktivierte Paratronschirm ihn
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