1968 - Ketzer der Tazolen
Teppich und Bastkissen ausgelegt war. Darauf ruhten zwei tazolische Skelette in enger Umarmung. Neben ihnen, rechts an der Felswand, stand eine große Truhe.
Als Ver to Nisch versuchsweise den Deckel anhob, gab er leicht nach. Unwillkürlich hielt er den Atem an, als er sah, dass er den kostbarsten aller Schätze gefunden hatte.
Darin befanden sich, fein säuberlich gestapelt, Hunderte von Aufzeichnungen; teilweise auf kostbarem Pergament, teilweise auf aus Pflanzenfasern geschöpftem, nicht weniger kostbarem Papier. Es war immer dieselbe Schrift, mit feinen, geschwungenen und überaus korrekten Linien und kunstvoll gezeichneten Bildsymbolen. Obenauf lag ein Pergament. Ver to Nisch stockte erneut der Atem, als er in der Lage war, die Worte darauf zu entziffern.
Das war genau die Sprache, in der er immer in der Gebetstrance redete. Die Sprache, die es heute nur noch in den alten Büchern gab, die in ebendiesen Bildsymbolen geschrieben waren. Sie klang etwas antiquiert, manchmal ein wenig fremd, aber trotzdem auch heute noch verständlich.
Vor allem für ihn, denn nach der langen Arbeit war auch er so etwas wie ein Sprachexperte geworden. Ich, Soe ra Lor, hinterlasse hiermit mein Vermächtnis in der Hoffnung, dass die Götter eines Tages ein Einsehen haben werden und unser Wissen den Tazolen zurückgeben.
Dunkle Zeiten werden kommen, da nun unsere Herrschaft endet. Ich muss keine Seherin sein, um zu wissen, dass die Frauen von nun an nicht mehr als Gebärmaschinen sein werden. Ich kann nichts daran ändern, obwohl ich die älteste aller Frauen bin. Dennoch gibt es immer noch Männer, die älter sind als ich, und es werden täglich mehr. Weil ich bereits seit meiner Priesterinnenweihe ahnte, dass es eines Tages dazu kommen würde, habe ich jahrelang unser Wissen bewahrt und hier zusammengetragen, damit es nicht für immer verloren geht. Ich habe auch die letzte Ruhestätte für mich und meine geliebte Vor ri Nas eingerichtet. Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir beide bereit und für immer vereint sein, ohne Angst und Not.
Ich bitte dich, Mann - denn ich zweifle nicht daran, dass nur ein Mann eines Tages die Schriften finden wird -, nicht sogleich Jankins Zorn heraufzubeschwören, wenn du dies hier liest. Du hast einen langen und beschwerlichen Weg hinter dir, und ich danke dir, dass du bis hierher gekommen bist.
Nimm dir nun die Zeit und lerne die Geschichte deiner Ahnen kennen. Ich habe alles aufgeschrieben, was einst von Frau zu Frau nur mündlich weitergegeben worden war. Wir haben viele Jahrhunderte die Legenden bewahrt, doch ich befürchte, dass es in Zukunft keine mündliche Überlieferung mehr geben wird. Die Männer werden den Frauen verbieten, Gesänge mit tausend und mehr Strophen abzuhalten, um die Erinnerung an unsere frühere Größe zu tilgen.
Es gibt nur dieses einzige Original. Zerstörst du diese Schriften, sind sie für immer verloren und mit ihnen auch all das Wissen der alten Zeit. Du würdest nie erfahren, wie lange wir schon wissen, dass unsere Welt rund ist, dass sie um Hilor kreist. Wir haben den Kalender eingeteilt und den zweiten Kontinent entdeckt bevor ihr eure ersten Seefahrer ausgeschickt haben werdet. Wir haben uns dort angesiedelt, und vermutlich leben wir dort noch heute, ohne dass ihr es wisst.
Ich weiß nicht, wie ihr den Kontinent benannt habt. Wir gaben ihm den Namen Dansarur, was Vogelflug in der alten Sprache bedeutet, denn so erschien er uns mit seiner wunderschönen Form. Genug davon. Die Wilden Männer sind schon sehr nahe. Vor ri Nas ist hier, und es schmerzt mich, die Furcht in ihren Augen zu sehen. Sie hat das heranziehende Heer gesehen und will sich niemals ergeben.
Die Priesterinnen werden nun den Zugang verschließen, und mögen die Götter mit uns sein, dass niemand je danach suchen wird - außer jenem Mann, der als Aufklärer kommt. Dies sind meine letzten Zeilen. Wir haben das Gift getrunken, und ich spüre, wie es warm durch meine Adern rinnt und mich schläfrig macht. Ich will nur noch ein letztes Mal das wunderschöne Gesicht meiner geliebten Vor ri Nas sehen und es berühren. Wir werden uns niederlegen und aus diesem Leben und der Erinnerung scheiden.
Ich bedaure es nicht, und ich habe keine Angst. Leb wohl, Mann, der neuen Zeit. Möge Theansu dich mit Weisheit segnen.
Gegenwart: DOLAMO „Ich kann mir vorstellen, was diese neue Erkenntnis bei deinem Volk ausgelöst haben wird", sagte Mhogena beeindruckt am Ende der Erzählung. „Was wurde dann aus
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