1968 - Ketzer der Tazolen
Tages. „Hier ist fast immer nur von den Frauen die Rede."
„Ihr habt einen Übersetzungsfehler begangen", meinte der Archäologe. „Es muss natürlich Männer in diesem Zusammenhang heißen."
„Nein, nein, es besteht überhaupt kein Zweifel!" wurde ihm heftig widersprochen. Der Tazole fuhr mit dem Finger über die Bildreihen, die von den Höhlenwänden auf Papier kopiert worden waren. „Wir konnten alle Symbole zuordnen", beharrte er. „Es steht eindeutig da, dass die Frauen ihre eigenen Männer schützten, Männer in Mehrzahlform wohlgemerkt, die Kräuter für die Bäder sammelten, und ... und ..." Die Stimme verstummte, und für lange Zeit war es sehr still. „Du musst dich geirrt haben", sagte ein anderer schließlich heftig. „Frauen haben nie was zu sagen gehabt. Sie sind dumm und nicht lebensfähig: Die Götter haben sie lediglich zur Arterhaltung erschaffen, eine weitere Bedeutung haben sie nicht. Das war schon immer so und wird auch so bleiben!"
Die anderen Tazolen in der Runde pflichteten ihm bei. „Dann lest es selbst!" ereiferte sich der Sprachforscher. „Ich habe diese Lügen nicht aufgeschrieben, ich interpretiere nur!" Ver to Nisch ordnete vergleichende Übersetzungen an und erlebte eine Überraschung. Alle waren übereinstimmend. Irgendwann einmal hatten die Frauen das Sagen gehabt. „Wir müssen den Zeitraum bestimmen wann diese Malereien angefertigt wurden, bevor wir die Berichte weitergeben", befahl Ver to Nisch.
Der Forscher war ziemlich nervös geworden. Auch den anderen ging es so. Aus diesem Grund kam man überein, dass niemand außer den bisher Eingeweihten von dieser ungeheuerlichen Entdeckung erfahren durfte. Trotzdem suchten sie weiter, immer tiefer in den Bergen. Die Altersbestimmungen hatten ergeben, dass die ältesten Höhlenmalereien mehr als 7000 Jahre alt waren. Auf diesen Zeitraum datierten auch die ältesten gefundenen Siedlungsüberreste. Sie fanden noch weitere Bildtexte, die. ebenfalls die Frauen in den Vordergrund stellten. Mit dem Auffinden, Kopieren, Entschlüsseln und Aufzeichnen dieser Texte waren die Sprachforscher jahrelang beschäftigt.
Ver to Nisch konzentrierte sich unterdessen darauf, weitere Relikte zu finden. Trotz seines Schreckens über die unerwarteten Erkenntnisse sah er sich jetzt erst recht dazu berufen, alles über die Vergangenheit zu erfahren. Allmählich festigte sich in ihm auch der Glaube, dass es wirklich so gewesen war, wie es die Übersetzer deuteten. Doch was war geschehen, dass sich alles änderte? Weshalb hatte zu seiner Zeit niemand mehr eine Erinnerung daran? Wieso konnten die Frauen, wenn sie eine so hohe Stellung eingenommen hatten, so tief fallen?
Die heutigen Frauen waren nicht nur in seinen Augen primitiv und ungebildet: Sie besaßen keine lange Lebenserwartung und konnten höchstens sechs Kinder gebären - was aber selten genug vorkam. Kaum eine Tazolin wurde älter als fünfzig Jahre. Das Elcoxol hatte auf sie keineswegs dieselbe lebensverlängernde Wirkung wie auf Männer. Somit war der Gedankengang nur logisch gewesen, dass sie von den Göttern nur zur Arterhaltung geschaffen worden waren, ohne weitere Bedeutung. Was war also damals anders gewesen, dass sich das Weltbild völlig verkehrt hatte?
Was war geschehen?
Wieder einmal stand Ver to Nisch vor einer Mauer. Er war fest davon überzeugt, inzwischen alle Höhlensysteme des Gebirgszuges durchkämmt zu haben. Die jahrzehntelangen Entbehrungen hatten den Tazolen ausgezehrt, und er fühlte sich weitaus älter, als er war. Er musste sich inzwischen auf seinen Karnos stützen. Doch seine Leidenschaft war nicht erloschen, noch immer glühte der tiefe Glauben in ihm, Theansus Sprachrohr zu sein und den Tazolen das letzte Wissen zu bringen. Von den ursprünglichen Helfern war außer den Sprachgelehrten keiner mehr da. Andere waren gefolgt, die bei weitem keine solche Begeisterung an den Tag legten wie jene zu Beginn der großen Expedition.
Viele von ihnen hielten Ver to Nisch und die Gelehrten für verdrehte Spinner, deren Haut durch das jahrelange Steineklopfen zuviel Kalkmehl abbekommen hatte und dadurch im Stoffwechsel durcheinandergeraten war. Nun schien der Archäologe am Ende angekommen zu sein. Dabei war er sicher, dass er und seine Helfer längst nicht alles gefunden hatten. Sie konnten sich inzwischen ein recht gutes Bild davon machen, wie die Tazolen in der Frühzeit gelebt hatten; mittlerweile waren auch die Sprachkundler vom Wahrheitsgehalt überzeugt.
Daher
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