1968 - Ketzer der Tazolen
Ver to Nisch?"
„Na, was glaubst du denn?" versetzte Vil an Desch. „Er wurde natürlich als Ketzer zum Tode verurteilt. Zuerst mit der Silengis ausgepeitscht und dann durch Elcoxol-Entzug langsam öffentlich hingerichtet."
„Das kann doch einfach nicht wahr sein!" Dao-Lin-H'ay fuhr sich durch den von der Stirn bis tief in den Nacken reichenden schmalen, silbernen Fellstreifen. Ihre Katzenaugen glühten. „Sie konnten die Wahrheit nicht akzeptieren?"
„Sie wollten es nicht", antwortete Vil an Desch. „Sie konnten es nicht zulassen, dass das männliche Weltbild völlig falsch und auf einer Lüge aufgebaut worden war. Damit hätte man eine Sünde zugeben müssen, mit der die Nachfahren der Wilden Männer zu leben hätten. Es sollte unter allen Umständen verhindert werden, dass die Frauen davon Kenntnis erhalten und vielleicht wieder Ansprüche stellen."
„Aber offensichtlich gelang es den Scoctoren nicht, Ver to Nisch für immermundtot zu machen", meinte Mhogena. „Nein, sonst könnte ich euch diese Geschichte bestimmt nicht erzählen", stimmte Vil an Desch zu. „Wie in jeder Ära gibt es Fanatiker und Aufgeschlossene. Ver to Nischs Kollegen, die Sprachgelehrten beispielsweise, protestierten öffentlich gegen diese Inquisition und fanden schnell Anhänger. Es war für den Rat unmöglich, sie alle ebenfalls anzuklagen. Und Ver to Nisch hatte sein Ende wohl vorausgesehen, denn er hatte rechtzeitig dafür gesorgt, dass die Relikte in Sicherheit gebracht wurden. Wenige Jahrzehnte danach musste der Rat sich der öffentlichen Meinung beugen, und Soe ra Lors Zeitzeugnis wurde veröffentlicht."
„An den Rechten der Frauen oder der Tatsache, dass diese gar nicht vorhanden sind, änderte sich aber augenscheinlich nichts", kritisierte die Kartanin. Ihre kräftigen, scharfen Fingernägel kratzten leise über den Stoff ihrer Kombination. Der Scoctore warf ihr einen unbestimmbaren Blick zu. Er hatte bisher keinerlei Meinung dazu geäußert, dass die Frauen bei den Milchstraßenvölkern eine gleichwertige Rolle spielten und dass es sogar relativ Unsterbliche unter ihnen gab, „Natürlich nicht", sagte er dann ruhig. „Ihre Lebensspanne ist einfach zu kurz. Das bedeutet doch nicht,. dass wir unsere Frauen nicht schätzen oder lieben. Sie leben keineswegs wie willige Sklavinnen. Sie spielen nur keine Rolle im öffentlichen Leben, sondern kümmern sich um die Erhaltung der Familie und das Heim. Das genügt doch!"
„Ich würde gern mehr über eure Frühgeschichte hören", bat Mhogena schnell, bevor die Kartanin aufbrausen konnte. „Selbstverständlich. Es ist übrigens eine sehr tragische Geschichte, und ich bin wahrhaftig nicht stolz darauf." Dao-Lin-H'ay entspannte sich wieder.
Vergangenheit: Tazolar Nach Soe ra Lors Überlieferungen Schon ganz zu Beginn ihrer Geschichte wälzten sich die Tazolen im Schlamm, um der Haut die lebensnotwendige Feuchtigkeit zuzuführen. Sie waren noch nicht sesshaft, sondern zogen jagend und sammelnd über das Land - aber nie zu weit weg vom Großen Ozean, dem sie sich zu jener Zeit eng verbunden fühlten. Die Gruppen wurden stets von Frauen angeführt, die die besten Schutzplätze fanden und mit ihrem hochentwickelten Geruchssinn stets als erste wussten, wo der nächste Schlammgrund lag. Auch auf den weiten Steppen, wo das Wasser meist unterirdisch floss und ausgegraben werden musste, waren sie den Männern weit voraus.
Stets gab es mehr Männer als Frauen, doch die Frauen waren weiser und geschickter. Sie verstanden die Sprache der Natur, konnten aus Tierhäuten und Fellen wärmende Kleidung und aus Pflanzenfasern Schuhwerk herstellen. Viele Männer folgten daher einer Frau, vertrauten sich ihrem Schutz und ihrem Geschick an. Die Frauen waren es auch, die das Feuer nutzen lernten - anfangs, indem sie brennende Scheite in einem feuerfesten Gefäß sammelten und dafür sorgten, dass die Glut niemals ausging. Ein unberührtes Mädchen der Gruppe wurde zur „Hüterin des Gefäßes" bestimmt, und es tat gut daran, seine Aufgabe gewissenhaft auszuführen. Denn wenn es versagte und die Glut erlosch, wurde es mit der erkalteten Asche beworfen und mit Schimpf und Schande davongejagt.
Später entdeckten die Frauen zufällig, dass man auch selbst Feuer erzeugen konnte, indem man zwei bestimmte Steine aneinander schlug; oder dünne, trockene Hölzchen mit einer Faserschnur so lange aneinander rieb, bis sie zu brennen begannen. Das war der Beginn einer neuen Zeit: Fleisch und Pflanzen konnten
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