1968 - Ketzer der Tazolen
wollten sie in erster Linie wissen, wie es zu dem großen Bruch gekommen war, wie diese blühende frühzeitliche Hochkultur so schlagartig untergehen konnte, ohne eine Erinnerung zu hinterlassen. Nachdem die Frauen alles so feinsäuberlich aufgezeichnet hatten, konnte Ver to Nisch es einfach nicht glauben, dass genau dieser Übergang im Dunkeln bleiben sollte. Bestimmt gab es auch dafür irgendwo einen Hinweis, eine bildliche Hinterlassenschaft. Irgendeine kleine Bildzeile hätte schon ausgereicht, um ihn zufrieden zustellen. Mit dieser Lücke würde er keinesfalls zum Rat zurückkehren.
Er interessierte sich kaum noch für die Gegenwart. Es hatte in den vergangenen hundert Jahren einige technische Neuerungen gegeben, von denen auch seine Expedition profitierte, doch das bemerkte er kaum. Man munkelte, dass einige hochbegabte Mathematiker und Physiker sich - zunächst noch theoretisch - damit beschäftigten, eine Art Sternenschiff zu bauen, um den Göttern näher zu kommen. „Und da lachen die anderen über mich!" amüsierte sich Ver to Nisch, als er das erstemal davon hörte. Immerhin wurde ihm bewusst, dass seine Zeit allmählich knapp wurde. Die Tazolen interessierten sich mittlerweile mehr für den Fortschritt als für die Vergangenheit; sie hatten vielleicht einen Weg gefunden, den Göttern noch näher zu kommen und ihnen dienen zu können.
Nach gut hundert Jahren war auch die Geduld des Rates erschöpft. Der Altertumsforscher musste demnächst Ergebnisse präsentieren oder er verlor jegliche Unterstützung. Immerhin war es zu kostspielig, zwei große Vorhaben gleichzeitig zu finanzieren. Ver to Nisch stand immer noch vor der Felswand und grübelte. Vermessungen hatten ergeben, dass sich dahinter ein großer Hohlraum mit einigen Nischen befand. „Diese Felswand ist künstlich installiert worden", sagte Ver to Nisch zu seinen letzten treuen Gefährten. „Seht euch diese Verfugungen an! Außerdem ist das Material anders. Ich bin sicher, dass wir dahinter genau das finden, wonach wir schon so lange suchen!"
„Mag ja sein, Ver", meinte einer, „aber wie wollen wir diesen Felsen wegbringen? Wenn es einen geheimen Mechanismus gibt, so können wir nur raten oder auf unser Glück vertrauen. Ihn zu sprengen wäre zu gefährlich."
„Dann tragen wir ihn eben ab, mit Pickel und Hacke", erwiderte der Scoctore. Die Helfer wurden in drei Schichten eingeteilt, in denen sie unermüdlich und unter größter Vorsicht, um nicht noch die ganze Höhle zum Einsturz zu bringen, den Felsblock abklopften und Stückchen für Stückchen aus ihm herausschlugen. Als die erste feine Öffnung herausbröckelte, beschwerten sich die Arbeiter in der Nähe über den abgestandenen, ekelerregenden Geruch, der ihnen entgegenschlug. Sie weigerten sich standhaft, mit dieser Tätigkeit weiterzumachen.
Die Arbeiten wurden eingestellt, bis Ver to Nisch überzeugt war, dass der Luftaustausch komplett war. Schließlich war der große Moment gekommen, die Lücke war groß genug zum Betreten des Hohlraums dahinter. Ver to Nisch drängte die Arbeiter zurück, ließ sich eine Lampe geben und betrat als erster das finstere Gemach. „Bei allen Göttern!" hörten die Wartenden draußen seine ehrfürchtige Stimme. „Jetzt sind wir wahrhaftig am Ziel."
In dem Hohlraum befand sich in verschieden großen Krügen und Behältern die Hinterlassenschaft einer Kultur, die wohl etwa tausend Jahre vor Ver to Nischs Geburt untergegangen war. Nach ersten Analysen war klar, dass die Ereignisse nicht viel länger hersein konnte. Warum erinnerte sich dann niemand an diese Vergangenheit'? Hatte man sie systematisch aus der Erinnerung der Tazolen verdrängt? Was Ver to Nisch fand, waren auf jeden Fall Zeugnisse, die man für wertvoll und wichtig genug erachtet hatte, um sie für die Nachwelt zu bewahren für jemanden, der ausdauernd und hartnäckig .genug war, den Raum zu finden, und diese Dinge daher auch wirklich zu schätzen wusste. Teppiche lagen dort ebenso herum wie verschiedene Kleidungsstücke, Schmuck und künstlerische Gegenstände.
Alles war fein säuberlich gestapelt und nach Themen geordnet. Nach der langen Zeit war natürlich so manches verrottet, doch die Felsen hatten nahezu keine Feuchtigkeit hindurchgelassen, so dass das meiste noch gut erhalten war. In einigen kleinen Nischen waren Altäre aufgebaut, mit rituellen Gegenständen, getrockneten Blumen und Schmuck. Dem Eingang gegenüber befand sich eine größere Nische, die mit einem wertvollen
Weitere Kostenlose Bücher