1976 - Das Jesus-Papier
war ein wuchtig wirkender Mann mit einem breitflächigen, offen wirkenden Gesicht, wie es vielleicht besser zu einem amerikanischen Football-Spieler als zu einem Reedereimagnaten gepaßt hätte. Er war etwa vierzig; sein Englisch war präzise, die Sprache eines Studenten.
Er war nach Washington geflogen, um dem Hearing beizuwohnen, vielleicht um etwas zu lernen, sagte er und lächelte dabei. Victor lachte; der gute Ruf des Griechen wurde höchstens noch von seinem legendären Geschäftssinn übertroffen. Das sagte Fontine auch.
»Ich hatte großes Glück. Ich hatte den Vorteil, daß mir in sehr jungen Jahren durch eine sympathische ferne religiöse Bruderschaft der Vorzug einer ausgezeichneten Ausbildung zuteil wurde.«
»Sie hatten in der Tat Glück.«
»Meine Familie war nicht wohlhabend, aber sie diente ihrer Kirche, sagte man mir. In einer Art und Weise, die ich auch heute noch nicht verstehe.«
Der junge griechische Reeder spielte damit auf etwas an, was Victor nicht erkennen konnte. »Dann geht die Dankbarkeit ebenso wie Gott seltsame Wege«, sagte Victor und lächelte. »Sie genießen einen ausgezeichneten Ruf. Das ist ein hohes Lob für jene, die Ihnen halfen.«
»Mein Vorname ist Theodore, Mr. Fontine. Mein kompletter Name ist Theodore Dakakos. Während meiner ganzen Schulzeit kannte man mich als Anaxas den Jüngeren. Sagt Ihnen das etwas?«
»In welcher Hinsicht?«
»Der Name Anaxas.«
»Ich hatte im Laufe der Jahre buchstäblich mit Hunderten Ihrer Landsleute zu tun. Ich glaube nicht, daß ich bis jetzt schon einmal auf den Namen Anaxas gestoßen bin.«
Der Grieche war ein paar Augenblicke lang stumm geblieben. Dann sagte er leise: »Ich glaube Ihnen.«
Kurz darauf verließ ihn Dakakos.
Das dritte Ereignis war das seltsamste von allen. Es rief ihm die Erinnerung an die Gewalttätigkeit, die er erlebt hatte, so deutlich ins Gedächtnis, daß Fontine der Atem stockte. Es war erst vor zehn Tagen geschehen, in Los Angeles. Es war im Beverly Hills Hotel in einer Konferenz zwischen zwei Firmen mit weitgespannten Interessen, die versuchten, diese Interessen aufeinander abzustimmen. Man hatte ihn dazu gerufen, um zu retten, was möglich war. Die Aufgabe war nicht zu lösen.
Deshalb verbrachte er den frühen Nachmittag damit, in der Sonne zu sitzen, statt drinnen im Hotel Anwälten zuzuhören, die versuchten, ihre Gebühren zu rechtfertigen. Er trank an seinem Tisch neben dem Pool einen Campari und staunte über die Zahl gutaussehender Leute, die offenbar nicht arbeiten mußten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
»Guten Tag, mein Herr.«
Eine Frau, Ende der Vierzig oder Anfang der Fünfzig, war es, die ihn in deutscher Sprache angesprochen hatte. Sie war mittelgroß, recht gut proportioniert, mit blondem Haar, in das ein paar Strähnen eingefärbt waren. Sie trug weiße Slacks und eine blaue Bluse. Ihre Augen wurden von einer silbergeränderten Sonnenbrille bedeckt. Ihr Deutsch klang, als wäre es ihre Muttersprache, nicht eine erlernte Fremdsprache. Er erwiderte in derselben Sprache, die bei ihm akademischer, weniger natürlich klang, und erhob sich etwas verlegen.
»Guten Tag. Kennen wir uns? Es tut mir leid, aber ich kann mich nicht erinnern.«
»Bitte setzen Sie sich. Es ist anstrengend für Sie. Das weiß ich.«
»So? Dann kennen wir uns doch.«
Die Frau nahm ihm gegenüber Platz. Sie fuhr in englischer Sprache fort: »Ja. Aber damals hatten Sie keine solchen Beschwerden. Damals waren Sie Soldat.«
»Während des Krieges?«
»Es war ein Flug von München nach Mühlheim. Eine Hure aus den Lagern war dabei, die von drei Schweinen in Wehrmachtsuniform begleitet wurde. In größerem Maß Schweine, als Schweine das jemals sein können.«
»Mein Gott!« Fontine stockte der Atem. »Sie waren ja noch ein Kind. Was ist aus Ihnen geworden?«
Sie schilderte es ihm kurz. Die französischen ResistanceKämpfer hatten sie in ein Übergangslager im Südwesten von Montbeliard gebracht. Dort hatte sie einige Monate lang Schreckliches erlebt, die Entzugserscheinungen ihrer Sucht. Sie hatte einige Male versucht, Selbstmord zu begehen, aber die Resistance hatte andere Vorstellungen. Sie rechneten damit, daß sie, sobald sie von dem Rauschgift losgekommen war, allein aus ihren Erinnerungen heraus genügend motiviert sein würde, um selbst Untergrundagentin zu werden. Daß sie zäh war, konnten sie erkennen.
»Sie hatten natürlich recht«, hatte die Frau gesagt, damals vor zehn Tagen am Pool des
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