198 - Sohn und Dämon
Haut über der Arterie, bis er sie mit bloßem Auge pulsieren sah. Dann setzte er die Nadel an und stach zu.
Langsam, ganz langsam drückte er sein Blut hinein.
Auf einmal schlug seine Mutter die Augen auf und sah ihn an. »Mutter«, flüsterte Daa’tan, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich bin es, dein Sohn… wie habe ich dich gesucht…« Ihr Blick verschleierte sich, sie schloss die Augen und sank zurück in Bewusstlosigkeit.
»Bald wirst du zu dir kommen, Mutter«, flüsterte Daa’tan.
»Bald werden wir reden können…« Als die Spritze leer war, zog er die Nadel aus der Arterie und drückte den Daumen auf die blutende Stelle. Aus einem Teil des untergelegten Tuches formte er einen kleinen, aber festen Stoffballen und presste ihn auf die Einstichstelle. Mit seiner kräftigen Rechten hielt er den Druckverband fest.
Er betrachtete den verstümmelten kleinen Finger. Würde geschehen, was er sich erhoffte? Würden die floriden Zellen seines Blutes sich mit den Gewebszellen seiner Mutter verbinden? Er schluckte und wartete. Sein Mund wurde trocken.
Die quastige Narbe auf dem verbliebenen zweiten Fingerglied verfärbte sich zuerst: Sie wurde gelblich, dann ockerfarben, schließlich hellgrün. Bald nahm der gesamte Stumpf diese Färbung an, und endlich begann er zu wachsen…
»Es gelingt«, flüsterte Daa’tan. Er war so aufgeregt, dass sein Atem flog. Mit einer Mischung aus Stolz und ungläubigem Staunen beobachtete er, wie das fehlende Fingerglied nachwuchs.
Noch immer hielt er die linke Hand seiner Mutter fest und drückte den Stoffballen auf die Arterie, um die Blutung zu stillen. Er hob die Frauenhand hoch und betrachtete den heilenden Finger von allen Seiten. Seine floriden Blutzellen hatten sich tatsächlich mit denen seiner Mutter verbunden und ihre Zellkerne dazu angeregt, das in ihrem Erbgut gespeicherte Fingerglied zu ersetzen. Es wuchs so rasant wie eine Pflanze und nahm allmählich eine rötliche Färbung an.
»Jetzt ist ein Teil von mir an deinem Körper, geliebte Mutter«, flüsterte der junge Bursche. »Für immer wird uns das verbinden, für alle Zeiten…«
Er wusste genau, wie wirkungsvoll diese Verbindung noch werden konnte, und seine Mutter würde es auch bald erfahren.
»Nein, du wirst nichts dagegen haben«, murmelte er. »Du wirst mir noch dankbar sein, das weiß ich. Und musste ich es nicht tun? War ich es dir nicht schuldig?«
Er murmelte, als gelte es sein Gewissen zum Schweigen zu bringen.
»Ich tat es nicht, um Macht über dich zu gewinnen, nein! Nur aus Sorge um dich, Mutter. Du wirst es selbst erkennen, ich weiß es genau…«
Daa’tan unterbrach seinen erregten Monolog, denn draußen, nicht weit vom Zelt entfernt, wurden Stimmen laut. Er nahm den Druckverband vom Handgelenk seiner Mutter – die Einstichstelle blutete nicht mehr. Behutsam legte er ihre Hand auf die Felle, in die sie gewickelt war. Der Finger war inzwischen fast vollständig nachgewachsen.
Über die Leichen der vier Wächter hinweg huschte er zum Zeltausgang. Vorsichtig schob er die Plane ein wenig zur Seite.
Draußen dämmerte bereits der neue Morgen. Männer und Frauen krochen aus Zelteingängen und traten aus Hüttentüren.
Manche rieben sich noch den Schlaf aus den Augen. Sie alle blickten nach Sonnenaufgang.
Dort sah Daa’tan die stacheligen Hornplatten auf den mächtigen Schädeln und Rücken von vier Mammutwaranen.
Schwarze Krieger saßen bereits auf den Echsen. Daa’tan zählte dreizehn Anangu. Weitere schwarze Krieger waren im Begriff, auf die Reitechsen zu klettern.
Zwei schwarze Krieger näherten sich im Laufschritt dem Zelt des Heilers. Die verschlafenen Menschen machten ihnen Platz. Die beiden Anangu wollten zu ihren Kameraden, kein Zweifel!
Eisiger Schreck durchfuhr den jungen Burschen. Er sprang zurück zum Lager seiner Mutter und packte sein Schwert. Ganz gewiss würde er die beiden Anangu töten können, doch der Tumult des Kampfes würde zwangsläufig zwanzig weitere auf den Plan rufen.
Er musste an seine Mutter denken.
Daa’tan hob das Schwert, holte aus und schlitzte die rückseitige Plane des Heilerzeltes auf. Dann steckte er Nuntimor unter den Gürtel, fasste seine Mutter und hievte sie auf seine rechte Schulter. Mit der wertvollen Last beladen zwängte er sich durch den Schlitz in der Plane und huschte zwischen die Zelte und Hütten in der Nachbarschaft.
Noch war die Sonne nicht aufgegangen, noch war er nicht mehr als ein Schatten zwischen den Behausungen
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