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198 - Sohn und Dämon

198 - Sohn und Dämon

Titel: 198 - Sohn und Dämon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
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der Telepathen. Ständig wechselte er die Richtungen, immer wieder blieb er stehen, ging in die Hocke und spähte zurück.
    Geschrei erhob sich in der Gegend des Lagers, in der das Zelt des Heilers stand.
    »Weiter«, keuchte er. »Wir schaffen es, Mutter! Ich rette dich…«
    Er hastete von Zelt zu Zelt, von Hütte zu Hütte. Im Schutz der Dämmerung gelang ihm so die Flucht aus dem Lager. Hin und wieder musste er seine Mutter von der Schulter nehmen und verschnaufen. Manchmal tat er das hinter einem Felsblock, manchmal zwischen hohen Sträuchern. Eine knappe Stunde später erreichte er sein Reittier.
    ***
    Jemand hielt ihre linke Hand fest, jemand stach ihr in die Pulsader ihres Handgelenks, jemand sprach zärtlich mit ihr. Ein Junge mit schwarzen Locken. Es waren blauschwarze Locken, so wie ihre! Sie erschrak. War das etwa…?
    Das ist dein Sohn, raunte eine Stimme irgendwo in ihrem Kopf. Und wieder: Das ist dein Sohn! Sie lauschte der Stimme nach, ihr wurde seltsam wehmütig zumute.
    Das ist mein Sohn? Er ist so groß…
    Aruula begriff auf einmal, dass sie träumte. Der junge Bursche mit den schwarzen Locken konnte gar nicht ihr Sohn sein, der war doch erst viereinhalb Jahre alt! Ein Traumbild narrte sie, ein böser Traum spielte mit ihren heiligsten Gefühlen! Sie war wütend und traurig zugleich.
    Ich will aufwachen, dachte sie. Warum schlafe ich überhaupt? Sie erinnerte sich dunkel an schwarze Krieger und deren Schwertknäufe, an Schritte in ihrer Kerkergrotte und an das Gesicht eines Heilers. Die Fußkette war gefallen! Die Kerkertür war aufgegangen!
    Ich will doch fliehen…
    Aruula nahm sich vor, endgültig aufzutauchen aus ihrem Traum. Sie wollte überprüfen, ob der junge Bursche ein Trugbild oder ob er lebendig war.
    Ihr Handgelenk brannte, etwas strömte heiß in ihre Schlagader, füllte ihre Hand und setzte den kleinen Finger ihrer Linken in Flammen. Sie versank in Farbnebel, hörte wunderbare Gesänge und fühlte sich leicht und beschwingt.
    Die Farbnebel verflüchtigten sich, Konturen von Büschen und Bäumen schälten sich aus dem Dunst. Sie lag im Gras, milde Luft streichelte ihren Körper und spielte mit ihrem Haar.
    Sie setzte sich auf.
    Sie saß an einem Waldrand. Die Bäume ragten hoch in den blauen Himmel. Ihre sattgrünen Laubkronen wogten im Sommerwind. Aus manchen zwitscherten Vögel, auf manchen hingen schwere rötliche Früchte.
    Zwischen den Bäumen wuchsen Büsche voller Beeren, und zwischen den Büschen standen bunte Blumen in einem dichten Grasteppich. Alles war so lebendig, so voller Kraft und Saft.
    Aruula beschloss, sich hier am Waldrand eine Hütte zu bauen, vielleicht auch in einer der Baumkronen. Wie auch immer – sie war entschlossen, den Rest ihres Lebens hier zu verbringen. Sie drehte sich um. Vier oder fünf Schritte entfernt saß ein junger Bursche, und hinter ihm breitete sich die Wasserfläche eines Sees aus. Oder war es ein Meer? Aruula konnte kein gegenüberliegendes Ufer erkennen. Sonnenlicht lag auf der kaum bewegten Wasseroberfläche.
    Sie betrachtete den jungen Burschen. Er hatte ein ähnliches Gesicht wie der, den sie eben noch zärtliche Worte hatte murmeln hören. Oder war es sogar derselbe? Dunkler Bartflaum bedeckte sein kräftiges Kinn. Genau wie sie, war er bis auf einen Lendenschurz nackt.
    Sie sah ihm ins Gesicht. Er hatte etwas an sich, das ihren Mutterinstinkt anrührte. Sein Blick war liebevoll und grausam zugleich, war einerseits zärtlich und andererseits verschlagen.
    Der Anblick des jungen Mannes verwirrte sie.
    Auf einmal merkte sie, dass er an ihr vorbei sah und lächelte. Es war, als wollte er ihr etwas zeigen.
    Sie wandte den Kopf, folgte seiner Blickrichtung und schaute wieder in den idyllischen, lichtdurchfluteten Wald hinein. Die Konturen einer Gestalt schälten sich aus Braun- und Grüntönen. Jemand lief zwischen Stämmen und Büschen durch das Unterholz. Kam auf sie zu. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht.
    Zuerst dachte sie, ein Mensch trüge einen Baum durch den Wald zum Seeufer. Dann glaubte sie, ein Baum schwebte über dem Unterholz. Endlich aber akzeptierte sie die Wahrheit: Ein vollkommen fremdartiges Wesen kam ihr aus dem Wald entgegen; ein Mutant, ein Fabelwesen, ein Monster – sie gab es auf, ihre Wahrnehmung in eine ihr vertraute Schublade schieben zu wollen: Das Wesen, das sich dort zwischen Buschwerk und Baumstämmen auf sie zu bewegte, war anders als alles, was sie bisher gesehen hatte.
    Sein Schädel war eine

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