1980 Die Ibiza-Spur (SM)
Anblick der in graues Leinen gebundenen »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« in eine alte, lange zurückliegende Geschichte verstrickte. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht ging er aus dem Zimmer, legte sich wieder hin, aber die Erinnerung hielt ihn wach:
Er war achtzehn Jahre alt und sein Bruder also zweiundzwanzig. Sie hatten ihre Rilke-Phase, das heißt, Victor hatte sie und zog den Jüngeren unerbittlich mit hinein, damit auch er sich gefälligst an jenen Dichter halte, der – so Victor – bis zu den Grenzen des Sagbaren vorgestoßen war.
Zugleich war es eine Zeit, in der Victor seine dritte oder vierte große Liebe erlebte. Es handelte sich um eine Musikstudentin aus Blankenese, die er aus der Distanz bewunderte und von der er wußte, daß auch sie jenen virtuosen Dichter verehrte. Victor Hemmerich liebte dieses Mädchen mit schwärmerischer Leidenschaft, zugleich aber in einer schüchternen Weise, die es ihm schwer machte, den ersehnten Kontakt auf direktem Wege herzustellen. So verfiel er auf eine List, wie sie wohl nur ein zugleich aufgewühltes und zaghaftes Herz ersinnen konnte. Er schrieb ihr einen langen und sehr gefühligen Brief, den er aber nicht auf die übliche Art, sondern geheimnisvoll verpackt abschicken wollte. Er nahm seine Malte-Ausgabe aus dem Bord, faltete den Brief und legte ihn zwischen das letzte, leere Blatt des Buches und den festen Leinendeckel. Dann verschloß er das Versteck, indem er den Rand des Leerblattes auf der Innenseite des Buchrückens festklebte. Wer nun das Buch in die Hand nahm, merkte nichts von dem Brief, selbst wenn er es von vorn bis hinten durchblätterte.
Klaus, mit seinen achtzehn Jahren nicht minder zu begeistern für alles, was aus dem Rahmen fiel und also auch für diese skurrile Methode, eine Botschaft zu verschicken, wurde eingeweiht. Um nun aber zu verhindern, daß der Brief womöglich für alle Zeit in seinem Versteck bliebe, tüftelten die Brüder eine zweite, wie sie meinten, gute Idee aus. Am Ende eines bestimmten Kapitels versahen sie den Text mit einem Zusatz, der sich freilich mit Rilkes Sprachgewalt nicht messen konnte. Victor ergänzte mit einem schwarzen Stift und ganz in der Art der gedruckten Lettern: »Renate! Hinteren Buchdeckel innen aufschneiden! Brief.«
Es wurde nicht zufällig die Seite 150, sondern das ging auf Victors Vorliebe für die Zeitparabel zurück, jene kleine Geschichte des Nikolaj Kusmitsch, der eines Tages die Idee hatte, sein – großzügig geschätztes – Zeitvermögen von einem runden halben Jahrhundert in Kleingeld umzuwechseln, in Tage, Stunden, Minuten, ja Sekunden. Was herauskam, war eine Riesesumme, die ihn beglückte. Aber dann gab er davon aus und zählte, was er ausgab, und ihm wurde ganz elend, als er merkte, wieviel das war.
Das Päckchen mit dem Buch ging ab, und von da an warteten die Brüder ungeduldig, warteten gemeinsam, fast so, als wäre es eine gemeinsame Liebe.
Doch die Antwort blieb aus. Acht Tage vergingen, zehn, zwölf. Da schmerzte es Klaus, zu beobachten, wie der Bruder litt. Und er, der Praktischere von beiden, der ja schließlich auch Ingenieur wurde, fand heraus:
»Victor, ich weiß, was da los ist. Wir haben einen großen Fehler gemacht. Wir hätten nicht Seite 150 nehmen sollen, sondern Seite 15 oder 5. Ist doch klar: Rilke liest man nicht so weg, wie wir unsere Karl Mays gelesen haben, fünfhundert Seiten in drei Tagen. Vielleicht liest sie fünf pro Tag, vielleicht nur drei. Bei fünf wären es dreißig Tage, die sie braucht, um von dem Brief zu erfahren.«
Und Victor war glücklich. Zwar mußte er sich auf eine noch längere Wartezeit einstellen, aber jedenfalls war neue Hoffnung geweckt. Und der ältere Bruder nahm sogar das nur leichthin erwogene Quantum von fünf Seiten als verbürgt und wurde erst wieder ungeduldig, als der dreißigste Tag da war. Doch immer noch blieb die Antwort aus. Nach einer weiteren Woche war es dann wieder Klaus, der, wenn auch spät, auf eine ganz realistische Erklärung verfiel:
»Gingen wir nicht bei der ganzen Aktion davon aus, daß sie Rilke verehrt?«
»Ja. Und natürlich auch davon, daß ich sie verehre!«
»Klar. Aber bleiben wir mal bei ihr: Wenn Rilke ihr Dichter ist, dann wird sie ihn ja wohl auch gelesen haben und vermutlich komplett, also auch den ›Malte‹. Folglich …«
»Ach du lieber Himmel, natürlich! Vielleicht hat sie das Buch früher schon drei- oder viermal gelesen, und so war unser Päckchen für sie nichts weiter als ein einziges
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