1981 - Richard
erst, es sei das Foto eines Buchdeckels, bis sie erkannte, dass es sich um ein gemaltes Bild handelte, um ein Ölgemälde. Sie betrachtete es ausgiebig. Sie dachte erst, dass es ein Spaß sei. Sie schaute das Bild lange an, nicht so sehr das kleine Mädchen mit dem Sonnenhut, sondern mehr die Umgebung im Hintergrund, den Strand und die Palmen. Die Form des Bootes kam ihr bekannt vor. Auf den Marquesas gab es nicht mehr viele dieser Fischerboote. Sie kannte sie aber noch von alten Fotos. Und dann das kleine Mädchen, dieses Gesicht, der Hut, der einen kurzen Schatten auf die glatte Stirn warf. Es konnte jeder Strand auf der Welt sein, jeder mit Palmen gesäumte Strand. Sie wusste nicht, ob es diese Boote auch woanders gegeben hatte oder noch gab. Dann sah sie die Signatur. Es war ihr erst gar nicht aufgefallen. Der berühmte Paul Gauguin hatte auf den Marquesas gemalt und dies war eines seiner Bilder. Warum auch immer Colette ihr dieses Foto geschickt hatte, sie fand das Bild schön und freute sich darüber. Sie überlegte kurz, ob es möglich war, davon einen größeren Abzug zu machen und es ins Büro zu hängen. Es gab in Taiohae mehrere Drogerien, die solche Aufnahmen auf Fotopapier drucken konnten. Sie wollte schon weiterblättern, sah aber noch einmal in das Gesicht des Mädchens. Die Kleine mochte fünf oder sechs Jahre alt sein. Sie schaute so, als habe sie eine Frage gestellt und wartete nun auf eine Antwort. Erst jetzt sah Florence, dass sie den Arm leicht angehoben hatte und etwas in der Hand hielt, etwas, das sie dem Betrachter anscheinend zeigen wollte.
Nach einigen Sekunden blätterte Florence weiter. Das nächste Foto zeigte Colette lachend. Sie selbst hatte diese Aufnahme gemacht. Es folgten noch einige solcher Fotografien, abwechselnd mit ihr oder Colette. Auf dem letzten Foto stand der kleine Marc neben ihr. Er lächelte nicht, sondern sah nur erwartungsvoll in Richtung Kamera. Florence schmunzelte über die Aufnahme, dieser Gesichtsausdruck. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein. Sie blätterte über die Tastatur in der Bildershow zurück, bis sie wieder die Aufnahme des Gauguin-Gemäldes fand. Hier stoppte sie. Sie ging mit dem Gesicht näher an den Monitor, nur ein kleines Stück, es war fast unbewusst. Sie kannte das Mädchen. Sie hatte das Kind schon einmal gesehen. Nicht als lebende Person, nein, auch als Bild, auf einer Fotografie, auf irgendeiner Fotografie.
*
Es kam eher selten vor, dass Heinz Kühler zu einer Dienstreise außerhalb Deutschlands geschickt wurde. Sein Ziel für die nächsten Tage war London. Als stellvertretender Geschäftsführer des Kunst- und Auktionshauses Blammer durfte er sich immerhin einen Flug in der Business Class und ein Vier-Sterne-Hotel leisten. Dieser Luxus war der Ausgleich für die anstrengende Arbeit, die ihm bevor stand. Noch am Tage seiner Ankunft, war sein erstes Ziel die Tate Britain , eine der vier Tate Galleries , die sich in Millbank am Londoner Themseufer befand. Er konnte an diesem Tag noch nicht in die Archive. Er musste sich zunächst eine Benutzerberechtigung besorgen. Das Haus Blammer war Mitglied im Tate-Verein . Seine Mitarbeiter konnten sich daher zeitlich befristet in den Archiven aufhalten, um Recherchen in den umfangreichen Katalogmaterialien durchzuführen. Heinz Kühler füllte im Büro der Tate-Verwaltung den Antrag aus und gab ihn bei einer älteren Dame ab, die nach seinem Pass und dem Firmenausweis fragte. Er übergab ihr die Dokumente und sie notierte sorgfältig seine persönlichen Daten. Die Dame gab ihm schließlich die Ausweise zurück und unterrichtete ihn, dass er am nächsten Tag ab 9:00 Uhr seine Benutzerberechtigung abholen könnte, wenn die Angaben stimmten und die Genehmigung erteilt wurde. Er nahm die bürokratische Hürde gelassen und fand sich tags darauf pünktlich wieder in der Verwaltung ein. Die Berechtigung wurde ihm selbstverständlich erteilt, immerhin zahlte Blammer jährlich mehrere hundert Pfund Gebühren für die Mitgliedschaft im Tate-Club . Die Archive befanden sich Abseits der Ausstellungsräume. Die Tate Gallery war vornehmlich eine Kunstsammlung, mit regem Publikumsverkehr. Bis er in das Heiligtum gelangte, musste er noch dreimal seinen neuen Ausweis vorzeigen. Dafür boten ihm die einzelnen Archivräume und der Lesesaal eine angenehme Ruhe. Es gab einen Instruktor, den er um Rat fragen konnte. Er hatte sich verschiedene Stichpunkte notiert. Das Foto des Ölgemäldes hatte er selbstverständlich nicht
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