1981 - Richard
übersprang zwei Zeilen, weil sein Auge unbewusst etwas wahrgenommen hatte. Er fand die Stelle, » ...bretonischer Mädchenkopf« . Ihm vielen sofort die Worte von Claudius Brahm wieder ein. Claudius Brahm sprach von einer bretonischen Bauerntochter, die Gauguin als Basis für das Motiv des kleinen Mädchens verwendet haben könnte. Er konnte das Kind im übertragenen Sinne von der rauen Atlantikküste mit in die liebliche Südsee genommen und sie in eine neue Umgebung hineinversetzt haben. Es konnte sich dabei um ein stilistisches Mittel handeln, das in der Kunst durchaus üblich war und auch noch heute ist.
»B retonischer Mädchenkopf« , sagte Heinz Kühler laut vor sich hin.
Der Mann am Nebentisch sah kurz zu ihm herüber. Dann war für einige Sekunden wieder Stille, bis Heinz Kühler ruckartig aufstand. Der Stuhl polterte und er entschuldigte sich für den Lärm. Wo war der Instruktor. Sein Platz war leer. Während Heinz Kühler auf das Pult zuging, sah er sich in den Gängen um. Er hatte Glück, gleich hinter einer Säule zog der Instruktor einen Band aus dem Regal und übergab es an einen seiner Kunden. Heinz Kühler winkte ihm zu und der Instruktor kam ihm langsamen, mit bedächtigen Schritten entgegen.
»Ich suche etwas«, flüsterte er halblaut, als ihn der Instruktor fast erreicht hatte.
Mit dem Zeigefinger an den Lippen wies der Instruktor in Richtung seines Schreibtisches, der außerhalb des Lesesaals stand. Sie gingen gemeinsam hinüber, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
»Ich suche etwas«, wiederholte Heinz Kühler, als sie den Arbeitsplatz erreicht hatten. »Ich habe einen Begriff und den Titel eines Bildes des Malers Paul Gauguin. Leider fehlt mir eine Abbildung. Haben sie die Möglichkeit danach zu suchen?«
»Wir haben selbstverständlich eine elektronische Stichwortsuche«, erklärte der Instruktor, »aber es kommt natürlich auf das Stichwort an, das Stichwort darf nicht zu trivial sein, ansonsten gibt es zu viele Treffer.«
»Ich habe drei Begriffe. Gauguin, Hirtin und bretonisch . Lässt sich damit etwas machen?«, fragte Heinz Kühler.
Der Instruktor nickte. Er hatte sich die Begriffe sofort notiert und suchte jetzt nach der richtigen Software auf seinem Computer.
»Es wird sicherlich einen Moment dauern. Sie können sich wieder setzen. Ich werde an ihren Tisch kommen«, sagte er und blickte zum Eingang des Lesesaals.
Heinz Kühler blieb noch einige Sekunden stehen, als habe er nicht richtig verstanden. Dann bedankte er sich und ging wieder zurück an seinen Schreibtisch. Es dauerte eine halbe Stunde. Der Instruktor hatte sogar einen Band unter dem linken Arm, als er wieder langsam und diesmal noch bedächtiger den Lesesaal durchschritt. Er legte das Buch auf den Tisch an Heinz Kühlers Platz ab und blätterte nach einem Lesezeichen, das er hinein gelegt hatte. Heinz Kühler erkannte das Bild sofort. Das Mädchen hatte eine dicke Nase und grobe, etwas dümmlich wirkende Gesichtszüge. Beim zweiten Hinsehen, waren ihre Gesichtszüge aber wohl eher das Ergebnis täglicher, harter Arbeit schon von Kindesbeinen an. Er kannte das Bild, weil er es bereits gestern einmal gefunden hatte. Das Aquarell hatte nichts mit der kleinen Julie aus der Südsee zu tun, nicht das Geringste. Er bedankte sich bei dem Instruktor und versuchte seine Enttäuschung zu verbergen.
Er hatte bis zum Abend noch einige Kataloge vor sich. Einen vermeintlichen Treffer, wie der mit dem bretonischen Mädchenkopf , erzielte er nicht mehr. Das Fazit der vergangenen beiden Tage war ernüchternd. Die Tate Gallery konnte ihm nichts über das Gauguin-Gemälde sagen, dass zu diesem Zeitpunkt in München, im Keller des Kunst- und Auktionshauses Blammer sicher verwahrt wurde. Bei allem was er bisher recherchiert hatte, gab es im Werk des Malers Paul Gauguin keinen Hinweis auf ein kleines Mädchen namens Julie. Es gab keinen Anhaltspunkt auf eine Julie des Bois , es gab auch keine bretonische Bauerntochter, die mit dem Mädchen auf dem Ölgemälde Ähnlichkeit hatte, es gab nicht einmal irgendein Kind in den Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, das der Kleinen mit dem Sonnenhut glich. Heinz Kühler gähnte, als er sich aus der Liste der anwesenden Besucher im Tate-Archiv in London austragen ließ. Draußen, auf dem Platz, atmete er die frische Luft tief ein und rieb sich die Augen.
*
Florence war in Gedanken. Sie formte das Wort Fotografie lautlos mit ihren Lippen. Und dann war es wieder da, wieder vor ihrem Auge, jetzt
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