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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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den Großen Bruder noch den Drei-Jahres-Plan, die Zwei-Minuten-Haß-Sendung und den ganzen übrigen Schwindel in Begeisterung geraten!«
    Das war sehr richtig, dachte Winston. Es bestand ein unmittelbarer, enger Zusammenhang zwischen Enthaltsamkeit und politischer Strenggläubigkeit. Hätte man sonst Furcht, Haß und fanatischen Glauben, wie sie die Partei bei ihren Mitgliedern voraussetzte, in der richtigen Weißglut erhalten können, wenn man nicht einen mächtigen Urtrieb auf Flaschen zog, um ihn als Treibstoff zu benutzen? Der Sexualtrieb war für die Partei gefährlich, und sie hatte gelernt, ihn in ihren Dienst zu spannen. Ähnlich war man mit dem Familiensinn verfahren. Die Familie konnte zwar nicht völlig abgeschafft werden, ja, man ermutigte die Leute sogar, in einer fast altmodischen Weise an ihren Kindern zu hängen. Die Kinder dagegen wurden systematisch gegen ihre Eltern aufgehetzt; man brachte ihnen bei, sie zu bespitzeln und jeden ihrer Verstöße gegen die Disziplin zu melden. Das Familienleben war in Wirklichkeit zu einer Erweiterung der Gedankenpolizei geworden, zu einem Mittel, um jedermann Tag und Nacht von intim vertrauten Angebern bespitzeln zu lassen.
    Er mußte wieder an Katherine denken. Sie hätte ihn fraglos bei der Gedankenpolizei denunziert, wenn sie nicht zu dumm gewesen wäre, um an seinen Ansichten etwas Unorthodoxes zu bemerken. Was sie ihm in diesem Augenblick ins Gedächtnis zurückrief, war die erstickende Schwüle des Nachmittags, die ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte. Er begann Julia zu erzählen, was sich vor elf Jahren an einem ähnlichen drückend heißen Sommertag ereignet hatte.
    Es hatte sich drei oder vier Monate nach ihrer Heirat zugetragen. Katherine und er hatten sich auf einer Gemeinschaftswanderung im Herzen von Kent verlaufen. Sie waren nur ein paar Minuten hinter den anderen zurückgeblieben, hatten dann aber eine falsche Richtung eingeschlagen und fanden sich plötzlich am Rand einer aufgelassenen Kalkgrube stehen. Der Boden stürzte jäh zu einer Tiefe von zehn oder zwanzig Meter ab; unten lagen große Felsentrümmer. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, den sie nach dem Weg hätten fragen können. Sobald Katherine merkte, daß sie den Weg verloren hatten, wurde sie sehr unruhig. Auch nur für einen Augenblick vom lärmenden Haufen der anderen Ausflügler getrennt zu sein, gab ihr das Gefühl, ein Unrecht zu begehen. Sie wollte auf dem Weg, den sie gekommen waren, zurücklaufen und in der anderen Richtung ihr Glück versuchen. Aber in diesem Augenblick entdeckte Winston ein paar Stauden Pfennigkraut, die in den Vorsprüngen des Gesteins unter ihnen Wurzel geschlagen hatten. Eine von den Stauden war zweifarbig, sie trug offenbar violette und ziegelrote Blüten am selben Stamm. Er hatte noch nie vorher etwas Derartiges gesehen und rief Katherine herbei, um sich das anzusehen.
    »Schau, Katherine. Schau mal diese Blumen. Diese Staude da, fast unten auf dem Grund. Sie hat zwei verschiedene Farben, siehst du es?«
    Sie hatte sich bereits zum Gehen gewandt, kam aber ziemlich verdrießlich für einen Augenblick zurück.
    Sie beugte sich sogar über den Rand der Grube, um zu sehen, worauf er deutete. Er stand ein wenig hinter ihr und hielt sie, um ihr Halt zu geben, am Gürtel fest. In diesem Augenblick kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, wie vollkommen allein sie waren. Nirgends eine Menschenseele, kein Blatt regte sich, nicht einmal ein Vogel war zu sehen. An einem solchen Ort war die Gefahr eines irgendwo verborgenen Mikrophons sehr gering, und selbst wenn es installiert wäre, würde es nur ein Geräusch verzeichnen. Es war um die heißeste, schläfrigste Nachmittagsstunde. Die Sonne brannte auf sie herunter, der Schweiß kitzelte sein Gesicht. Da war ihm der Gedanke gekommen . . .
    »Warum hast du ihr nicht einen tüchtigen Stoß versetzt?« sagte Julia. »Ich hätte es getan.«
    »Ja, Liebling, du schon. Ich hätte es auch getan, wenn ich derselbe Mensch gewesen wäre wie heute. Das heißt, vielleicht hätte ich es getan – ich bin mir nicht sicher.«
    »Tut es dir leid, daß du es nicht getan hast?«
    »Ja. Im Grunde bedaure ich es.«
    Sie saßen Seite an Seite auf dem staubigen Fußboden. Er zog sie an sich. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, der angenehme Duft ihres Haares überstäubte den Geruch nach Taubenmist. Sie war sehr jung, dachte er, sie erwartete noch etwas vom Leben, sie begriff nicht, daß es nichts hilft, einen unbequemen Menschen

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