1986 Das Gift (SM)
Mann hat also eine nächtliche Rundfahrt gemacht, und das in einer Gegend, die dafür ziemlich ungeeignet ist. Was will ein Ausländer nachts auf dieser Nebenstrecke? Aber es geht noch weiter! Vor zwanzig Minuten wurde ich angerufen von den Männern, die jenseits des westlichen Kontrollpostens den Strand absuchen. Spuren im Sand haben sie nicht gefunden, aber die können von der Flut verwischt worden sein. Dafür war die Nachfrage bei den Anliegern ergiebiger. In einem kleinen Strandlokal ist an dem Abend, der auf die Veröffentlichung der Fotos folgte, ein Ausländer aufgetaucht. Nach der Beschreibung sieht er aus wie der Mann in Zimmer 301. Er ist zweimal da erschienen, wollte angeblich am Strand Fotos machen. Seinen Wagen hat er auf dem Parkplatz des Lokals abgestellt. Ob es ein CHRYSLER war, konnten die Leute nicht sagen, aber ich bin mir da so gut wie sicher.«
»Und was, glaubst du, hat das alles zu bedeuten?«
»Daß der dritte Mann die beiden Flüchtlinge am Ufer erwartet hat. Es ist natürlich nur eine Hypothese, aber vieles spricht dafür. Vielleicht sind sie mit ihren Scootern …«
»Jefe!« Der Ruf kam vom Balkon.
Jerónimo öffnete die Schiebetür. »Was gibt es?«
»Ich höre gerade über Sprechfunk, daß der Mann sein Zimmer verlassen hat und nun auf den Fahrstuhl wartet. Im Bademantel.«
»Okay.« Jerónimo gab noch ein paar Anweisungen und sorgte dafür, daß der Balkon nicht wie eine Manöver-Leitstelle aussah. Er schickte die Polizisten ins Zimmer und forderte Lupita und Luisa auf, sich hinter den Vorhang zu stellen und den Mann aus der Deckung heraus zu beobachten. Nur Raquel, deren blondes Haar inzwischen von einer grünen Badekappe verdeckt wurde, durfte an der Balkonbrüstung stehenbleiben. Eine einzelne durch ein Fernglas die Bucht betrachtende Frau würde nicht auffallen.
Aus einem Walkie-talkie kam, so daß alle es hören konnten, die Meldung: »Die Person verläßt jetzt das Gebäude, betritt den Strand. Weißer Bademantel, Gummisandalen, Strandbeutel. Ende.«
Der Polizist, über dessen Gerät die Meldung gekommen war, antwortete: »Ziel aufgefaßt. Wir übernehmen. Ende.«
Die Gestalt ging langsam an den aus Palmblättern geflochtenen Sonnenschutzdächern, den Strandpilzen, vorbei, und natürlich gab die Rückenansicht nicht viel her. Daher war Jerónimo enttäuscht, als Raquel, so früh und also wohl äußerst vorschnell, ausrief:
»Es él!« Er ist es.
»Aber Mädchen!« Sein Ärger war nicht zu überhören.
»So markant sind seine Waden und sein Hinterkopf nun auch wieder nicht!«
Doch mit zwei Worten wischte Raquel seinen Unmut beiseite:
»Der Strandbeutel!«
Alle blickten nun auf den marineblauen, mit einem weißen Gittermuster verzierten Beutel, den der Mann in der rechten Hand hielt. Raquel führt fort: »Das ist der Beutel, mit dem er bei uns aufkreuzte und aus dem er sein Handtuch zog.«
»Gut beobachtet!« Jerónimo war neben sie getreten.
»Aber seine Visage wollen wir uns auch noch ansehen.«
Die Gelegenheit dazu kam schneller als erwartet. Jeder hatte geglaubt, daß erst der Rückweg des Mannes endgültige Klarheit brächte, weil sein Gesicht während des Schwimmens nicht deutlich genug zu erkennen sein würde. Aber er warf wenige Meter vor dem Flutsaum den Beutel in den Sand, streifte den Bademantel ab, und dann drehte er sich um, blickte hinüber zu den Strandpilzen. Und wieder war es Raquel, die spontan reagierte:
»Es él! No tengo ni la menor duda!« Er ist es. Ich habe nicht den geringsten Zweifel.
Gleich darauf meldete sich auch Luisa: »Ja, ich glaube, das ist er! Wenn ich mir das Haar schwarz denke …«
Schließlich sagte auch Lupita: »Ja.« Aber es klang weniger überzeugt, was niemanden verwunderte, denn sie hatte, wie Luisa, einen bärtigen Schwarzhaarigen in Erinnerung, und bei ihr kam hinzu, daß ihr in der Zwischenzeit einige Dutzend Männer nahegekommen waren.
Zehn Minuten später, als der Verdächtige geschwommen hatte und den Strand heraufkam, bestätigten die Mädchen ihren ersten Eindruck, und noch einmal war es Raquel, die mit Konkretem aufwartete: »Ja, so sah er aus, als er unter der Dusche stand.«
Wie schon an den Vortagen, wies der Polizeichef die Zeuginnen auf die Notwendigkeit hin, zu schweigen. Er machte es drastisch:
»Sollte eine von euch sich an ihn wenden, um ihn zu warnen oder zu erpressen, hat er keine Wahl! Dann muß er sie umbringen!«
Er gab den Polizisten den Auftrag, die Mädchen nach Hause zu bringen, sobald der Mann sein Zimmer
Weitere Kostenlose Bücher