1986 Das Gift (SM)
zehntausend Dollar kostet, dann soll er sie zahlen!
Und noch einmal – es ging auf und ab in seinem Innern – kippte die Hoffnung um in Verzweiflung. Er dachte an die entsetzliche Serie der Todesfälle in den eigenen Reihen, und wieder, wie er es auf der Fahrt hierher getan hatte, zählte er sie auf: Erst Fernando, dann Georg, dann Raúl, dann Richard!
Plötzlich kam ihm ein Kinderlied in den Sinn. Wie von selbst formte sich zu der alten Melodie ein neuer Text:
»… und einen schlug der Fels zu Brei, da war’n es nur noch zwei …«
Es dunkelte, und so wurde es Zeit. Er stand auf, steckte die Pistole ein und nahm die Lampe in die Hand. Dann begann er den Abstieg. Auf dem ersten Stück konnte er sich nicht verlaufen, weil es dort nur wenig Bewuchs gab. Später, in dem kleinen Pinienwald, half ihm die Methode, derer sich auch Felix bedient hatte; die Kerben in den Bäumen zeigten ihm den Weg.
Als er die Senke erreicht hatte, setzte er sich auf den Boden, wartete.
Ob wir nicht doch versuchen sollten, uns nach México City durchzuschlagen? Felix müßte eine Wohnung nehmen in einem riesigen Mietblock, in dem keiner den anderen kennt. Er würde einkaufen, Spaziergänge machen, ins Kino gehen, würde sich, wenn doch mal ein Nachbar ihn anspräche, für einen Deutschen ausgeben, der mit der harten Währung seiner Heimat in ein valutaschwaches Land gegangen ist. Ich könnte mich auf Wochen, auf Monate in dieser Wohnung verbergen, könnte fernsehen, Radio hören, und Felix würde mir Zeitungen und Bücher besorgen. Ich würde es da ein ganzes Jahr aushalten, leichter jedenfalls als eine einzige Woche auf diesem verbrannten Berg. Und eines Tages kehren wir nach Acapulco zurück, holen unser Geld, machen das Geschäft mit den Panamesen, und dann gehen wir nach Europa, vielleicht nach Monte Carlo, weil Felix so gern dahin möchte. Oder wir kaufen uns eine Finca an der Costa del Sol …
Er hörte es rascheln, zog die Pistole aus der Tasche, blieb aber sitzen. Und da war er, der leise Pfiff, mit dem sie sich schon als Schüler verständigt hatten, dieser tiefe, langgezogene Ton, der wie ein Eulenruf klang.
Er antwortete, sah gleich darauf den dunklen Schemen, sah die Gestalt aus den Zweigen heraustreten. Er stand auf. Felix warf seine Last zu Boden, und dann umarmten sie sich.
»Wie geht es dir?« fragte Felix.
»Beschissen.«
»Hast du ein gutes Versteck gefunden?«
»Ja, eine Höhle. Aber da fühle ich mich wie auf dem Mond.«
»Wird alles anders!«
»Wann?« Sie sprachen gedämpft, flüsterten fast.
»Wann?« fragte Leo noch einmal. »Lange halte ich’s hier nicht mehr aus. Wie war die Kontrolle?«
»Länger als sonst.«
»Gründlicher?«
»Nein, eher schlampig. Sie hatten nur einen einzigen Mann für beide Richtungen.«
»Wo hast du den Proviant gekauft? Vor oder nach der Sperre?«
»Danach. Im supermercado von Coyuca.«
»Was sagen Fernsehen, Radio und Zeitungen?«
»Sie schimpfen über die Polizei, die auf der Stelle tritt. Eine Zeitung schrieb: ›Tausende von Jägern umringen den Bau, aber die Füchse entkommen!‹ Und so war es ja auch.«
»Wie ist es auf den Straßen? Vor allem hier auf der Nebenstrecke? Fällt der CHRYSLER nicht auf?«
»Ich hab’ ihn diesmal woanders abgestellt. Zweihundert Meter weiter fand ich eine Stelle, an der ich von der Straße aus direkt in die Pinien fahren konnte, mindestens zehn Meter weit rein. Das schien mir sicherer, denn heute abend war der Verkehr stärker als neulich.«
»Was? Auf dieser armseligen Strecke? Sag mal, könnte es sein, daß du Verfolger im Schlepp hattest?«
»Ausgeschlossen! Mach dich nicht verrückt! Ich glaube, du vergißt manchmal, daß ich auf keiner Fahndungsliste stehe und mich frei bewegen kann wie zigtausend andere Touristen.«
»Trotzdem! Du mußt aufpassen! Ist womöglich eins der Autos schon seit Acapulco hinter dir gewesen?«
»Nein. Manchmal fuhr zehn, zwanzig Minuten lang überhaupt keins hinter mir.«
»Vielleicht ein Wagen ohne Licht?«
»Mensch, Leo, ich sag’s dir noch mal: Mach dich nicht verrückt! Ich bin ein x-beliebiger Tourist! Und es gibt ja auch eine einleuchtende Erklärung für den stärker gewordenen Verkehr auf dieser Strecke. Die Urlauber, ob sie nun von México City kommen oder dahin zurückwollen, meiden die carretera 95. Es hat sich herumgesprochen, daß da die meisten Kontrollen sind.«
»Waren Polizeiautos dabei?«
»Quatsch! Es waren ganz normale Laster und Pkws, und eben, zum Schluß, ein Jeep und ein VW-Bus, und von vorn
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