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1986 Das Gift (SM)

1986 Das Gift (SM)

Titel: 1986 Das Gift (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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an. Die Gruppe machte Schwimm- und Tauchübungen, und einmal an diesem Vormittag richtete der Truppführer es so ein, daß bis auf ihn selbst und Paul Wieland alle am jenseitigen Ufer waren. Er schnauzte Paul Wieland an, er habe sich beim Training nicht genügend eingesetzt, und scheuchte ihn über die Wiese: An den Zaun und zurück, marsch, marsch! Hinlegen! Auf! Hinlegen! Auf! Kniebeugen! Robben! Und noch einmal: Hinlegen! Das »Auf!« blieb diesmal aus, und so lag er nun im Gras, das Gesicht am Boden, die Arme vorgestreckt. Der Schinder kam auf ihn zu, und plötzlich stand er mit beiden Füßen auf seinem linken Unterarm. Obwohl die Schmerzen fast unerträglich waren, gab Paul Wieland keinen Laut von sich. Aber dann folgte der physischen Attacke die verbale: »Na, Ratte, wie fühlst du dich im Moment?«
    Er wandte das Gesicht nach links, sah die weißen Turnschuhe und darüber die blassen Waden. Sein Arm schmerzte, als steckte er in einer Schraubzwinge. Er versuchte, ihn unter den Schuhen hervorzuziehen; es gelang ihm nicht. Da richtete er sich auf, nur ein wenig, denn seine Lage beließ ihm nicht viel Spielraum. Aber es reichte, um seinen Mund blitzschnell an eine der Waden zu pressen. Und dann biß er zu, trieb seine Zähne tief hinein in das quellige Fleisch! Der Schrei des Mannes gellte hinüber zum anderen Ufer, so daß einige der Rekruten ins Wasser sprangen, um zurückzuschwimmen. Drei, vier Sekunden lang ließ Paul Wieland seine Zähne in dem Bein des Unteroffiziers, ohne den Druck zu verringern. Dann, plötzlich, weil er den Blutgeschmack nicht mehr ertrug, ließ er ab.
    Und wieder das Nachspiel, länger diesmal, schwieriger, da er kein unvereidigter Neuling mehr war und da es jetzt um einen tätlichen Angriff auf einen Vorgesetzten ging.
    Der Kompaniechef leitete die Verhandlung. Außerdem waren ein Leutnant und – als Vertrauensmann der Soldaten – ein Gefreiter dabei.
    Nun kam er nicht mehr glimpflich davon. Laut Aussage des Truppführers war der Tritt auf den Unterarm nur ein Versehen, und so wurde der Biß in die Wade als unangemessen heftige Reaktion und gezielte Körperverletzung angesehen. Das Urteil: einundzwanzig Tage Arrest. Aber es war ein Trost, daß der Kompaniechef den Unteroffizier von seinem Vorhaben abbringen konnte, zusätzlich den Weg der Zivilklage zu beschreiten. Nach verbüßter Strafe wurde Paul Wieland versetzt, und das brachte die beiden Kampfhähne für immer auseinander.
    Er überquerte den Boulevard Miguel Alemán , ging auf der dem Ufer zugekehrten Seite weiter. Immer noch beschäftigte ihn der Biß in das Bein des verhaßten Mannes, ja, er strich sich sogar mit der Hand über den Mund, denn noch einmal, nach so vielen Jahren, glaubte er, dessen Blut zu schmecken.
    Aber nicht nur empfand er den Ekel von damals; etwas anderes verspürte er genauso stark: die Genugtuung, sich der Willkür eines anderen nicht gebeugt zu haben. Und ein Wort seines Vaters fiel ihm ein, der die Geschichte dieser rabiaten Heimzahlung gern zum besten gab, aber dann jedesmal zu dem Schluß kam: »So dünnhäutig Paul ist, so dickschädelig ist er auch.«

8.
    Christine Röhl und Petra Nitze, die beiden Hamburgerinnen, sonnten sich auf dem Balkon ihres Hotelzimmers. Da sie nahtlos bräunen wollten, hatten sie das Balkongitter mit Bademänteln, Handtüchern und Kleidern behängt und sich nackt hinter der reichlich bunt ausgefallenen Sichtbarriere auf den bequemen Liegen ausgestreckt. Auf ihren Körpern glitzerte es von Öl, denn sie kannten die Intensität der tropischen Sonne. Sie trugen Augen- und Nasenschützer und hatten die Flasche mit dem Sonnenschutzmittel griffbereit neben sich gestellt.
    Christine, die ältere, war, wie ihr Beruf es verlangte, groß und schlank. Sie arbeitete als Fotomodell und Mannequin. Ein Wochenablauf konnte es durchaus mit sich bringen, daß sie am Montag für Aufnahmen von Sommerkleidern durch die Gassen von Ibiza Stadt schlenderte, am Mittwoch auf einem Laufsteg in Frankfurt neue Stewardessen-Uniformen vorführte und am Sonnabend vor dem Eiffelturm in Pelzen posierte. Sie verdiente gut, und das machte sie zufrieden. Seit Jahren war sie ein in den großen Werbeagenturen gefragtes Modell, weil sie die seltene Mischung aus natürlichem Charme und Urbanität in sich vereinigte und überdies, worauf in der Branche ebenfalls Wert gelegt wurde, zuverlässig war. Sie hatte schulterlanges dunkles Haar, einen schöngeschwungenen, vollippigen Mund, eine klassisch-gerade Nase und

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