1986 Das Gift (SM)
braune Augen.
In den vergangenen Monaten hatte sie ihren Terminkalender so überladen, daß sie in Streß geraten war und sich nach Ferien gesehnt hatte. Drei Acapulco-Wochen sollten ihr die verlorengegangene Ausgeglichenheit zurückgeben.
Petra war einen halben Kopf kleiner als die Freundin, ebenfalls schlank, ebenfalls hübsch. Zwar fehlte ihr die Weitläufigkeit, doch mit ihren eindeutig nordischen Attributen, dem blonden Haar und den graublauen Augen, und mit ihrer makellosen Figur hätte auch sie auf dem Laufsteg Erfolg haben können. Aber sie machte etwas ganz anderes, studierte Germanistik und Hispanistik an der Hamburger Universität und wollte, ehe sie für das bevorstehende Magister-Examen zum Endspurt ansetzte, noch einmal ausspannen.
Die beiden Freundinnen, die eine neunundzwanzig, die andere fünfundzwanzig Jahre alt, bewohnten in Hamburg eine Altbauwohnung, deren Mietkosten Christine zu zwei Dritteln, Petra zu einem Drittel bestritt, was etwa den unterschiedlichen Anteilen an den fünfeinhalb Zimmern entsprach. Dennoch, sechshundertfünfzig Mark monatlich allein fürs Wohnen aufzubringen, wäre der Studentin unmöglich gewesen, wenn sie nicht zusätzlich zu dem nicht gerade üppig bemessenen elterlichen Scheck Einnahmen aus einem Job bezogen hätte, um den so manche ihrer Kommilitonen sie beneideten. Vor vier Jahren hatte sie an dem Wettbewerb einer großen deutschen Zeitschrift teilgenommen, die unter dem Stichwort »Talentsuche« junge Leute beiderlei Geschlechts aufrief, Foto, Lebenslauf und ein besprochenes Tonband an die Redaktion zu schicken. Die besten, so hieß es in dem Aufruf, würden zur Funkausstellung nach Berlin eingeladen werden und erhielten dort auch Gelegenheit, sich einer aus Experten von Funk und Fernsehen zusammengesetzten Jury zu präsentieren. Kurzum, Petra Nitze gewann nicht nur die Fahrkarte nach Berlin, sondern holte sich in der Sparte »Nachrichtensprecher« auch noch den ersten Preis. Dieser Erfolg brachte ihr die Chance ein, als Sprecherin beim NDR tätig zu werden.
Man bot ihr sogar ein festes Arbeitsverhältnis an, aber sie lehnte ab, weil sie ihr Studium fortsetzen wollte. So verständigte man sich darauf, daß sie bei Bedarf angerufen wurde. Sie fuhr dann ins Studio und sprach ihren Text auf Band. Es waren Beiträge von fünf, zehn, manchmal von fünfzehn Minuten, und das Spektrum der Vorlagen reichte von Viehmarktberichten über Gartenbauanleitungen bis hin zur Interpretation moderner Lyrik. Den Redakteuren gefiel ihre Art zu sprechen, ja, einige waren geradezu vernarrt in ihre Stimme. Einer sagte ihr sogar, sie spreche so perfekt, daß er ihrem Vortrag selbst dann mit Genuß zuhöre, wenn es um die Auflistung von Schlachtviehpreisen gehe. In der Tat hatte sie eine kraftvolle, wohlklingende Stimme und wußte gut zu artikulieren. Die große Nachfrage aus den verschiedenen Redaktionen wurde allerdings gebremst durch ein arbeitsrechtliches Handicap. Als ambulante Mitarbeiterin durfte sie ein bestimmtes Jahreseinkommen nicht überschreiten. Das Limit hatte sie meistens schon im Mai erreicht. So war es auch jetzt, doch diesmal freute sie sich darüber, denn sie brauchte Zeit für zwei wichtige Vorhaben: die Reise und das Examen. Es würde nützlich sein, sich vor der Prüfung noch einmal in einem spanischsprachigen Land aufzuhalten. Daß sie sich die teure Fahrt überhaupt leisten konnte, verdankte sie also ihrem Job. Während ihre Kommilitonen für einen Stundenlohn von zehn Mark Kisten schleppten, bekam sie für ihre kurzen Einsätze jeweils achtzig bis hundert Mark.
Ein heimlicher Beobachter hätte an den beiden ausgestreckten Körpern seine Freude gehabt. Doch wie Christine und Petra erst einmal dafür gesorgt hatten, daß ein Einblick in ihren Balkon sowohl vom Garten wie von den benachbarten Zimmern aus nicht stattfinden konnte, so hatten sie auch die entfernt stehenden Häuser gründlich überprüft und für ungefährlich befunden. Sie waren nicht etwa prüde, aber auf ihrer ersten gemeinsamen Reise vor zwei Jahren hatten sie in Italien unangenehme Erfahrungen gemacht. An einem einsamen Strandabschnitt hatten sie aufs Bikini-Oberteil verzichtet, waren von zwei Polizisten entdeckt und auf die Wache gebracht worden. Dort hatte man sie lange verhört und schließlich zur Zahlung eines Bußgeldes verurteilt. So etwas wollten sie nicht noch einmal erleben.
»Eine verrückte Ordnung!« sagte Christine. »Nackt herumzulaufen ist nur bei den Primitiven und bei den ganz
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