1986 Das Gift (SM)
viel sehen. Einmal, als Richard sich nach rechts beugte, um in eine Schlucht hinunterzublicken, sagte Leo zu ihm auf deutsch: »Bald machst du die Reise noch mal bei Tage, und dann kannst du Umschau halten. Es lohnt sich. México ist wie ein buntes Bilderbuch. Kannst alles haben: Gebirge, Urwald, das tiefe Grün der tropischen Niederung, den Strand und die Felsenküste, karge, verbrannte Erde und üppigste Vegetation; das ist immer nur eine Frage der Bewässerung. In ungefähr einer halben Stunde haben wir rechts den Pico de Orizaba mit seiner Schneekuppe, aber wir werden ihn nicht sehen, weil das Mondlicht nicht ausreicht. Ja, und was die Zivilisation betrifft, kannst du auch alles haben: brodelnde Städte und verschlafene Indianerdörfer, Plantagen, Ranchos, Haciendas, Paläste, Hütten und natürlich jede Menge Kirchen. In Cholula, einer kleinen Stadt mit fünfzehntausend Einwohnern – oder vielleicht sind’s inzwischen ein paar mehr geworden –, stehen dreihundertfünfundsechzig davon, für jeden Tag eine.«
»Liegt der Ort auf unserer Strecke?«
»Normalerweise ja, wenn es nämlich über die Hauptstadt geht; aber wir biegen vorher ab, in Puebla. Magst du Kirchen?«
»Ich seh’ mir immer das viele Gold an und frag’ mich, ob Jesus das wohl gewollt hat. Es geht mir so schwer in den Kopf: auf den Bänken die bettelarmen Indios mit ihren ausgemergelten Gesichtern, neben sich ihre halbverhungerten Kinder, und über ihren Köpfen glitzert es. Also, was deine Frage betrifft: Landschaften interessieren mich mehr.«
»Kriegst noch genug davon zu sehen! In ein paar Stunden wird es hell, und dann haben wir noch ungefähr die Hälfte der Strecke vor uns. Die Gegend um Cuernavaca zum Beispiel ist schön. Sie liegt fünfzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel. Das ist ideal für Europäer, denen auf die Dauer die heiße Küste ebensowenig bekommt wie die dünne Luft in zwei-, dreitausend Meter Höhe. Wenn alles überstanden ist, zieh’ ich erst mal für ein halbes Jahr dorthin. Ich zeig’ es dir nachher. Und den cañon zeig’ ich dir auch, aber erst später. Er ist zwar nicht so gewaltig wie der vom Colorado-River, aber doch sehenswert. Trocken ist es da und heiß, schrecklich heiß. Danach geht’s dann runter an den Pazifik.«
Eine Stunde später – sie waren schon ein gutes Stück über Orizaba hinaus – kam Rauls Frage. Sie kam sehr direkt. Er hatte den beiden gerade von seiner Heimat erzählt, von einem Ort namens Quiroga in der Nähe des Patzcuaro-Sees, hatte über die Fischerboote gesprochen, über ihre seltsamen Netze, die während der Fahrt links und rechts von den Bordwänden abstehen wie riesige Libellenflügel, da fragte er ganz unvermittelt: »Was ist in dem Container und in den Fässern?«
»Contrabanda«, antwortete Leo. Schmuggelware. Und als Raúls Seitenblick ihm verriet, daß es gern noch etwas genauer sein durfte, fügte er hinzu: »Bauteile für elektronische Geräte.«
»In Fässern?« fragte Raúl. Der Tonfall verriet sein Erstaunen.
»Siehst du«, warf Richard ein, »so wie du das nicht vermutet hast, vermutet es niemand! Darum die Fässer.«
»Ist das denn so wertvoll?«
»Kommt drauf an«, antwortete Leo. »In diesem Fall ist es uns so viel wert, daß wir dir dreieinhalbtausend Dollar für den Transport zahlen.«
»Die kann ich auch gut brauchen.«
»Lebst du allein?« fragte Leo.
»Ja. Ich war mal verheiratet, aber das ist achtzehn Jahre her, und den Fehler mach’ ich nicht ein zweites Mal.«
»Kinder?«
»Klar. Zwei. Ich kenne sie nicht, hab’ sie nur als Babys erlebt. Jetzt sind sie achtzehn und siebzehn, und ich hab’ nicht mal Fotos von ihnen.«
»Und diese Galerie?« Leo zeigte auf die Bilder am Armaturenbrett.
»Meine Eltern und Geschwister.«
»Woran ging deine Ehe kaputt?«
»Du willst es aber genau wissen!«
»Wenn du nicht darüber reden magst …«
»Okay, warum eigentlich nicht? Dies hier …«, er klopfte gegen das Lenkrad, »ist ja auch ’ne Vertrauenssache. Also, ich war zu jung, war gerade zwanzig, da verknallte ich mich. Und wenn man verknallt ist, leidet der Verstand. Du denkst, wenn du die Hübsche nicht an dich bindest, haut sie irgendwann ab. Also band ich sie an mich. Daß ich selbst von diesem Tag an auch gebunden war, hatte ich nicht bedacht.
Ich kriegte es bald zu spüren. Elena war, als wir heirateten, erst sechzehn, aber energisch wie ein Feldwebel. Wenn ich abends mal in die cantina ging, gab’s Krach, schon wegen des Geldes, das an allen Ecken fehlte,
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