1986 Das Gift (SM)
Ecke.
Doch er schlief nicht gleich ein. Er malte sich aus, eine Polizeistreife stieße vor bis zu den Fässern und verlangte dann von Raúl, daß er eins öffne. Auch für diesen Fall hatten sie vorgesorgt. Außer dem Frachtbrief für das Umzugsgut, auf dem sie den Container angegeben hatten, besaß Raúl einen zweiten; da stand in der Rubrik »Warenbezeichnung«: Chemikalien. Und der Adressat war die Compañía Boulders Laboratorios in Guadalajara. Dieses Konnossement hatte Raúl, wie vereinbart, bis jetzt noch nicht vorgezeigt. Hätte der Polizist die Ladung genauer inspiziert und dabei die Fässer entdeckt, dann hätte Raúl dieses zweite Papier gezückt und erklärt, von Acapulco aus gehe die Reise weiter; er habe zwei Aufträge auf einmal übernommen, aber, um Zeit zu sparen, die Fahrten kombiniert. Das war absolut legal. Bliebe dann nur noch, dem Vorwurf zu begegnen, er habe nicht gleich beide Frachtpapiere vorgelegt. Für dieses Versäumnis hätte er natürlich Erklärungen zur Hand gehabt. Zum Beispiel: Er sei doch jetzt auf der ersten Fahrt, und der Boulder-Frachtbrief gelte erst für die zweite. Oder: Er sei zu bequem gewesen. Oder er würde ganz einfach Gedankenlosigkeit vorschützen. Aber was, dachte Leo, wenn die Polizei bei der nächsten Kontrolle die Fässer findet und darauf besteht, daß sie geöffnet werden? Dann ist das Dilemma da! Das Dioxin hat eine Konzentration von 1000 ppm. Es ist in hermetisch abgeschlossenen Räumen eingefüllt worden. Das Öffnen der Fässer auf freier Landstraße hätte nicht nur für die daran beteiligten Personen, sondern für die gesamte Umgebung verheerende Folgen.
Auch die Möglichkeiten eines Unfalls malte er sich aus, den Zusammenprall des Lasters mit einem Bus zum Beispiel und danach den Absturz in eine der zahlreichen tiefen Schluchten. Schon der kleinste Riß in der Metallwand nur eines einzigen Fasses würde zur Katastrophe führen!
Wären wir nur schon drei Tage weiter! dachte er. Dann sitzen die Dinger in der Erde.
Ihm fiel eine alte Geschichte ein, in der es auch um die geheime Beförderung einer Chemikalie gegangen war. Er lächelte ins Dunkel. Ein Fall von viel geringerer Bedeutung als dieser Transfer über das Hochland von México. Auch war er selbst gar nicht der Transporteur gewesen.
Er machte damals ein Auslandspraktikum und arbeitete in einem spanischen Werk, in dem große Mengen von Quecksilber hergestellt wurden. Dieses flüssige Schwermetall mit seinem hohen spezifischen Gewicht stellte, wenn es kilo- oder gar zentnerweise anfiel, einen gewissen Wert dar, so daß die Betriebsangehörigen durchaus auf die Idee verfallen konnten, dann und wann ein Quantum beiseite zu schaffen. Einer der Arbeiter hieß Federico Gallegos. Auf seinem Weg zur Fabrik benutzte er ein Fahrrad, und weil er damit – am Pförtnerhäuschen vorbei – direkt bis zu seinem Arbeitsplatz fuhr und dort meistens unbeaufsichtigt blieb, war es nur eine Frage der Zeit, bis ihn der tägliche Anblick des hohlen Fahrradgestänges auf eine, wie er meinte, günstige Möglichkeit zusätzlicher Einnahmen brachte. Eines Tages war es soweit. Er schraubte den Sattel ab, füllte den Fahrradrahmen mit Quecksilber, montierte den Sattel wieder drauf, und als der Feierabend gekommen war, setzte er sich auf seinen Drahtesel und startete. Doch sehr bald erwies sein Einfall sich als tückisch. War es schon wegen des zusätzlichen Gewichtes viel mühsamer als sonst, in die Pedale zu treten, so war es – aus demselben Grund – noch mühsamer, die Balance zu halten. Doch Federico verzagte nicht. Er sagte sich, alles sei eine Frage des Trainings, und so umrundete er zweimal das Gebäude, bevor er Kurs auf das Pförtnerhäuschen nahm. Und wirklich, die Übungsrunden hatten ihn in den Stand versetzt, wenigstens den Eindruck der Trunkenheit am Lenker zu verhindern. Doch letzten Endes verhalfen sie ihm nicht zum Erfolg. Im Gegenteil, vielleicht hätte er ohne die Probefahrt das Unternehmen als zu schwierig erkannt und abgebrochen. So aber, in dem Bewußtsein, geübt zu haben, und also in der sicheren Erwartung, es zu schaffen, steuerte er schließlich dem Ausgang zu, und das Verhängnis nahm seinen Lauf. Zu seinem Pech hatte seine Frau beim Pförtner eine Nachricht hinterlassen, und so klappte es nicht mit dem gewohnten Kopfnicken und dem unbehelligten Passieren des Kontrollfensters. Der Mann rief: »Warte!« und kam sogar heraus aus seinem Häuschen. So mußte Federico, um keinen Verdacht zu erregen,
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