1986 Das Gift (SM)
weitere Fortschritte bei den angelaufenen Vorsorgemaßnahmen.
Der Polizeichef hatte bereits um zwei Uhr ein geschätztes Ergebnis zum Stand der Evakuierung erhalten. Danach hatten etwa zweihundertfünfzigtausend Menschen die Stadt verlassen, und der Strom riß nicht ab. Je länger die Verhandlungen sich also hinzogen, desto mehr verringerte sich die Zahl der potentiellen Opfer.
Um Viertel vor drei wurde Kaffee gebracht. Die Verbindungstüren waren geöffnet worden. Gerardo Jiménez, der Beamte vom Ministerium für Tourismus, und Paul Wieland hatten es übernommen, die Damen und Herren in den Nachbarzimmern zu informieren. Am liebsten hätte der Krisenstab eine totale Nachrichtensperre verhängt, doch angesichts der allgemeinen Bedrohung war das unmöglich. Die Entscheidung, den Dioxin-Nachweis zu fordern, wurde allerdings geheimgehalten, denn es sollte vermieden werden, daß Funk und Fernsehen die Gangster womöglich vorzeitig darüber unterrichteten.
Bei den Journalisten herrschte hektische Betriebsamkeit. Sie schrieben und fotografierten. An Motiven für ihre Aufnahmen hatten sie reichliche Auswahl: die drei Hotelzimmer, die Männer des Krisenstabes, die technischen Anlagen. Und sie gingen auch auf den Hotelflur, um von einem der landwärts gerichteten Fenster aus die Costera zu fotografieren. Da sie sich im sechzehnten Stockwerk befanden, konnten sie riesige Teile des Trecks einfangen. Auch das Boot und die Bucht nahmen sie auf, und vielleicht formten sich in ihren Köpfen schon jetzt Bildunterschriften wie:
»Bedrohte Strände«, »Paradies in Gefahr«, »Ufer des Schreckens«, »Promenade des Grauens«.
Auch mehrere Fernseh-Teams aus Acapulco und der Hauptstadt hatten sich in den Nachbarzimmern eingerichtet, und vor einer halben Stunde war sogar eins aus den USA gekommen, mit einer Linien-Maschine aus Los Angeles. Die Amerikaner hatten erzählt, daß sich endlich einmal, wenn auch auf bedrückende Weise, ihr persönlicher Traum vom Fliegen verwirklicht habe: Sie hätten eine Boing 737 fast ganz für sich allein gehabt. Den Reportern aus der Hauptstadt war es ähnlich ergangen. Die ankommenden Maschinen waren gespenstisch leer. Die in Acapulco abgehenden Flugzeuge dagegen, so wurde berichtet, waren über ihre Sitzkapazitäten hinaus mit Passagieren gefüllt, und das hatte zur Folge, daß es wegen des Gepäcks zu schweren Auseinandersetzungen gekommen war. Da auch Sondermaschinen eingesetzt wurden, hatten sich die erregten Debatten in kurzen Abständen wiederholt, bis schließlich der Polizeichef vom Zimmer 1610 aus die Weisung erteilt hatte, nur Handgepäck zur Mitnahme zuzulassen und alle anderen Stücke im Flughafen zu lagern. Dennoch: Die durch den Verzicht auf Gepäckmitnahme freigewordene Kapazität war wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Abertausende von Menschen warteten in und vor dem Flughafengebäude auf den Abtransport, und es wurden immer mehr. Die beiden nationalen Fluglinien, die AERO MEXICO und die MEXICANA DE AVIACION, gingen in ihrem Hilfsprogramm über das bloße Bereitstellen von Sondermaschinen hinaus. Sie strichen andere Inlandsflüge und schickten auch diese Maschinen nach Acapulco. Die Transporte wurden längst nicht mehr nur in die Hauptstadt geleitet, sondern zu allen Flughäfen des Landes. So war den Menschen, die ein Flugzeug bestiegen, der Zielort unbekannt. Doch das kümmerte sie nicht, denn mittlerweile saß jedem die Angst im Nacken, die Giftwolke würde ihn womöglich noch erreichen.
Auch auf den Straßen der Stadt war der Exodus nun in vollem Gange. Zwar hatte die Polizei die endlosen Fahrzeugschlangen unter Kontrolle, aber sie kamen nur langsam voran. Etwas war neu am Verhalten der Autofahrer. Sie hatten aus der gemeinsamen Not gelernt und hupten nicht mehr, sondern ertrugen das Warten mit Geduld, mit Disziplin. Und sie respektierten sogar eine Maßnahme, die sie anderen gegenüber benachteiligte. Die Polizei hatte nämlich einen Fahrstreifen für Krankenwagen, Busse, Lkws und Dienstfahrzeuge eingerichtet, und auch wenn dieser einmal frei war, scherte keiner der PkwFahrer aus. Jedem war klar: Er selbst beförderte vier, fünf, höchstens sechs Personen aus der Gefahrenzone heraus, die eleganten grauen Busse der FLECHA ROJA oder der ESTRELLA DE ORO hingegen und die klapperigen Vehikel, die sonst die Dörfer der Umgebung abfuhren, und die überfüllten Lastwagen schafften das Zehn- bis Zwanzigfache, und deshalb gebührte ihnen der Vorrang.
Aber auch die Bevorzugten übten
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