1988 VX (SM)
auf, drängte sich noch näher an ihn heran.
Er streichelte ihre Brüste, sagte: »Und ich hatte immer gemeint, Leute in unserem Alter gehörten nur tagsüber in die Grünanlagen und dann auch nur mit einer Tüte Vogelfutter in der Hand oder mit der Zeitung.«
»Letzte Nacht war es wie vor zwanzig Jahren«, antwortete sie.
»Und in dieser Nacht wird es wieder so sein.«
»Merkwürdig! Wir sind doch im Elend.«
»Ja, merkwürdig.«
»Frank, ich will nicht, daß du ins Gefängnis kommst!«
Es war weit nach Mitternacht, als sie den Park verließen und ins Hafenviertel zurückgingen. Aber sie mochten noch immer nicht eintreten in ihr Quartier, kehrten um, stießen auf die Ramblas und fanden eine schummerige Kneipe mit vorwiegend jungen Gästen. Sie setzten sich an die Theke, bestellten weißen Riojas .
Es herrschte ein großes Gedränge, und dennoch empfanden sie den Aufenthalt als angenehm, bis …, ja, bis Frank einen Gesprächsfetzen auffing, der bei ihm zunächst für Irritation und dann für Entsetzen sorgte. Zwei Wörter waren es, und sie hörten sich wie ein Vor- und ein Nachname oder wie die Bezeichnung eines Sportclubs oder irgendeiner Firma an: wekorta ekis . Sie fielen mehrmals in einer lebhaften Diskussion zu seiner Linken, wo sich drei junge Männer und eine Frau sehr eindringlich unterhielten. Dann fiel das Wort Alemania , das er kannte, und gleich darauf brachte die Frau den Begriff arma quimica in die Debatte. Auch dieses Wort kam mehrere Male. Es setzte sich in seinem Kopf fest, und schließlich half ihm seine Allgemeinbildung, denn in quimica die Chemie wiederzuerkennen, war nicht schwer, und ebensowenig war es ein Kunststück, von arma auf Armierung zu kommen und auf Armada und Armee.
Er wandte sich an den jungen Mann, der ihm am nächsten war, sagte auf englisch:
»Entschuldigen Sie bitte, darf ich Sie fragen, was der Ausdruck wekorta ekis bedeutet?«
»So heißen zwei Buchstaben im spanischen Alphabet«, sagte der Spanier und nahm einen Kugelschreiber aus der Tasche, zog den Bierfilz unter seinem Glas hervor, schrieb etwas auf den weißen Rand, schob Golombek die kleine runde Pappscheibe hin, und der las: V – X.
Es folgte, in fließendem Englisch, eine weitere Auskunft:
»In Deutschland sind zwei Bomben aus einem Munitionslager gestohlen worden, zwei Bomben mit VX, einem der gefährlichsten chemischen Kampfstoffe, die es gibt. Es kam vor einer halben Stunde durch die Nachrichten.« Er zeigte auf den Fernseher, der inmitten einer bunten Batterie von Flaschen auf einem Regal stand. »Ganz Deutschland ist in Aufregung, und die Nervosität soll sich inzwischen auch schon auf das übrige Europa ausdehnen.«
»Mein Gott!« rief Frank aus. Er vergaß, sich zu bedanken, wandte sich Katharina zu, zog sie vom Hocker. »Sie haben …« Er korrigierte sich: »In Deutschland hat man zwei VX-Granaten gestohlen. Komm, laß uns gehen!«
Er legte einen Geldschein auf den Tresen.
»Sie brauchen doch deshalb nicht zu fliehen«, sagte der junge Spanier. »Deutschland ist weit weg, und hier werden sie ihre Bomben bestimmt nicht abwerfen.«
Da drehte Katharina sich um. »Das befürchten wir auch nicht«, sagte sie, »aber unsere Kinder sind in Deutschland, und wir werden sie jetzt anrufen. Gute Nacht!«
»Gute Nacht!« riefen alle vier.
Draußen legte Frank ihr den Arm um die Schultern.
»Nun wissen wir es also! Und sie haben sich nicht eine, sondern zwei Granaten geholt!«
»Aber es wird …, es darf sich für uns nichts ändern!« Nach wenigen Minuten erreichten sie ihre Pension, nahmen die Perücken ab, gingen hinauf. Sie zogen sich gleich aus, duschten, legten sich dann auf das neue Damastlaken und deckten sich, weil es warm war, nur mit einem, ebenfalls neuen Laken zu, ließen das Licht noch brennen.
»Ich muß immer an das Kino denken«, sagte er.
»An welches Kino?«
»An das mit dem Kinderfilm. Der Behälter liegt unter dem Sitz, und plötzlich strömt ganz leise das Gas aus, kriecht durch die Reihen, und ein paar hundert Kinder werden zu Opfern der Chemie, haben nicht mal die Chance, die Marianne hatte, nämlich, wenn auch ohne Arme, am Leben zu bleiben! Damals, meine ich. Hast du dir eigentlich mal überlegt, daß sie auch ein VX-Opfer ist?«
»Wie meinst du das?«
»Sie ist während der Aufregung, die nach Bradens Ermordung herrschte, umgekommen. Schon da ging es um das Camp. Hast du noch die Tabletten, die Markus uns damals gegeben hat?«
»Ja, eine ganze Packung. Ich hab’ sie mitgenommen nach Ibiza, weil
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