1988 VX (SM)
ich nicht wußte, wie es mir da ergehen würde. Sie sind im Kosmetikkoffer.«
»Was meinst du, würden sie reichen? Für uns beide? Wäre es nicht schön, gleich einzuschlafen und dann … dann … Es gäbe kein VX mehr und keine VITANOVA, nicht mehr dieses schäbige Zimmer und auch nicht die Trauer um Marianne. Alles wäre für immer vorbei.«
Der Ruck ging wie ein Erdstoß durch das französische Bett, so heftig richtete Katharina sich auf. Sie schlug das Laken zurück, packte Frank an den Schultern, schüttelte ihn. »Du, sag so etwas nie wieder!« Dann sprang sie auf, zog den kleinen Koffer unter dem Bett hervor, hielt wenig später die Schachtel mit den Tabletten in die Höhe. »Nun paß mal auf, wo das hingeht!« Sie lief ins Bad, ließ aber die Tür offen, warf die Medizin ins WC, spülte sie hinunter, kehrte ans Bett zurück. »Hörst du? Ich will nicht, daß du so etwas noch einmal sagst!« Wieder lief sie ins Bad, drehte den Wasserhahn auf, füllte ein Zahnputzglas, stürmte ins Zimmer zurück und schleuderte ihm das kalte Wasser ins Gesicht. »Diese Scheiß-Chemie!« schrie sie. »Nie mehr werde ich zulassen, daß du etwas anderes bekommst als Hustenbonbons oder Pfefferminztee! Steh auf, unser Bett ist patschnaß! Wir müssen es abziehen und die Wäsche erstmal trocknen. Derweil gehen wir spazieren. Am Hafen. Gucken uns die Schiffe an. Kommen auf andere Gedanken!«
Er hatte sich erschrocken aufgerichtet, sah Katharina fassungslos an, schüttelte sich das Wasser aus dem Gesicht.
»Steh jetzt endlich auf!« schrie sie noch einmal. Und er stand tatsächlich auf. Sie zogen sich an und gingen ein zweites Mal durch die Nacht.
4.
Das farblose Gift mit dem nicht minder farblosen Namen VX versetzte die Nation in Aufregung. Schlagartig sorgte die zähflüssige Substanz für eine Angst, wie die Jüngeren sie nie kennengelernt hatten und wie sie den Älteren nur vom Krieg her in Erinnerung war.
Die von der VITANOVA unter Mordandrohung erzwungene Durchsage war zwar zu nachtschlafender Zeit erfolgt, und der Sender, der sie ausgestrahlt hatte, war nur bis zu einem Radius von hundertfünfzig Kilometern zu empfangen; dennoch machte die Schreckensmeldung in Stundenfrist ihren Weg durchs ganze Land. Immer wieder unterbrachen die Fernseh- und Rundfunkstationen ihre laufenden Programme, um die böse Botschaft zu senden, und am Morgen konnte man in den Zeitungen lesen, was der Bevölkerung – oder vielmehr: einem noch nicht näher bestimmbaren Teil von ihr – bevorstand.
Die Wirkung dieser Nachricht war vielfältig, und die voneinander abweichenden Reaktionen der Menschen ergaben sich nicht nur aus den unterschiedlichen Temperamenten, sondern auch aus sozialen Gegebenheiten und sogar aus dem geographischen Standort.
Einige, die über Mittel und Möglichkeiten verfügten, ihre berufliche Tätigkeit zu unterbrechen, verließen Hals über Kopf das Land, reisten mit Kind und Kegel nach Übersee. Andere, und das waren vor allem Einwohner großer Städte, flüchteten in die Wälder, zelteten dort oder richteten sich unter freiem Himmel ein, getrieben von der Annahme, den Attentätern gehe es um einen möglichst dramatischen Effekt in dichtbesiedelten Wohngebieten. Die meisten Bewohner von Grenzregionen rechneten sich jedoch gute Überlebenschancen aus, weil sie glaubten, der Schlag werde allein gegen die Bundesrepublik gerichtet sein und daher komme ihre Zone wegen der sonst eintretenden gleichzeitigen Gefährdung von Nachbarstaaten nicht in Betracht. Und natürlich gab es auch Menschen, die sich sagten, genausogut könnten sie vom Blitz getroffen werden, und also zu Hause blieben.
Die Behörden allerdings durften nicht auf irgendwelche Vermutungen bauen oder den Lauf der Ereignisse tatenlos abwarten. Sie mußten handeln, mußten zunächst die Bevölkerung aufklären. Das war keine leichte Aufgabe, denn die ersten Anweisungen der Regierung enthielten die Empfehlung, die Einwohner vor der ungeheuren Gefahr zu warnen und gleichzeitig dafür zu sorgen, daß sie die Ruhe behielten. Das kam schon fast der Quadratur des Kreises gleich.
Zum Katalog der dringlichsten Maßnahmen gehörte die Anordnung, Menschenansammlungen zu verhindern. Bei Schulen, Kindergärten, Sportplätzen, Konzertsälen und ähnlichen Einrichtungen könnte sie zügig durchgeführt werden, doch schon bei Krankenhäusern und Gefängnissen würden sich große Schwierigkeiten ergeben.
Die Medien beschränkten sich nicht darauf, die Schrekkensmeldung ständig zu
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