1988 VX (SM)
sagen wir, fünf oder auch zehn Millionen Mark. Vielleicht bringt das was.«
Die meisten Männer in der Runde reagierten empört. Einige sprangen sogar auf, und der allgemeine Protest wuchs sich aus zu einem lauten Stimmengewirr, so daß Schattner als Hausherr und Konferenzleiter die Anwesenden mehrmals zur Ordnung rufen mußte. Nachdem die Ruhe halbwegs wiederhergestellt war, sagte einer der Vertreter des Verteidigungsministeriums, ein kleiner, kahlköpfiger Mann, der mit stark rheinischem Akzent sprach, zu der Ärztin: »Ich halte diesen Vorschlag für indiskutabel! Von den technischen Schwierigkeiten der Kommunikation mal abgesehen, möchte ich Sie fragen: Wie kommen Sie nur dazu, diesen Kanaillen eine so fürstliche Offerte machen zu wollen?«
Die Ärztin, die sich durch das Geschrei nicht hatte aus der Fassung bringen lassen, sprach so ruhig weiter, wie sie begonnen hatte: »Aus einem ganz einfachen Grund! Weil wir nämlich auf einen VX-Anschlag nicht vorbereitet sind! Ich will Sie an eins der dunkelsten Kapitel in der Geschichte meiner Heimatstadt erinnern, um Ihnen zu zeigen, wie schlampig wir Deutschen sein können, wenn es um die Chemie geht. Wahrscheinlich ist der Fall Ihnen allen bekannt, aber die Einzelheiten haben Sie vielleicht vergessen. Auf dem Werksgelände einer Hamburger Chemiefabrik haben jahrzehntelang chemische Substanzen herumgelegen, die den Tod von Tausenden hätten verursachen können. Da gab es Arsen, Strychnin, Phosphor, Thiophosgen und sogar acht Granaten mit insgesamt fünfunddreißig Litern des Kampfstoffes Tabun. Im Jahre 1979 fanden ein paar Kinder auf dem kaum geschützten Gelände Behälter mit Chemikalien und spielten damit. Ein Achtjähriger starb, zwei andere Kinder wurden schwer verletzt. Die strafrechtlichen Ermittlungen führten dazu, daß man sich das Gelände etwas genauer ansah und dabei auch überprüfte, wie denn vorher amtlicherseits mit dieser Firma umgegangen worden war. In dem abschließenden Bericht hieß es dann, etwa zwanzig hamburgische Behörden hätten mit ihr zu tun gehabt, unter ihnen die Polizei, die Feuerwehr und das Bauordnungsamt, um nur ein paar zu nennen. Schon 1949 hatte das Altonaer Gesundheitsamt die technischen Einrichtungen dieses Betriebes scharf kritisiert, und das Gewerbeaufsichtsamt hatte von zerfressenen Fässern, austretenden giftigen Gasen und einer verpesteten Umgebung berichtet.« Sie machte eine Pause, und die nutzte Schattner.
»Bitte, kommen Sie zur Sache!« sagte er. »Unsere Zeit ist äußerst begrenzt.«
»Ja, gern. Also, die Gefahr, in der wir uns jetzt befinden, ist natürlich um ein Vielfaches größer als die, in der die Bevölkerung von Hamburg damals schwebte. Demgegenüber ist unsere Fähigkeit, solchen Gefahren zu begegnen, unverändert gering. Darum mein Exkurs! Darum mein dringender Rat, mit den Terroristen Verhandlungen aufzunehmen! Wir haben seither nicht viel dazugelernt. Ich meine, es geht jetzt nicht darum, das Gesicht zu wahren oder gar Macht zu demonstrieren. Es geht darum, den Einsatz der beiden Granaten um jeden Preis zu verhindern. Wir haben zwar einen Katalog von medizinischen Sofortmaßnahmen bei Chemieunfällen, und den muß es auch geben, wenn Jahr für Jahr über vierhundert Millionen Tonnen sogenannter gefährlicher Güter per Bahn, Schiff und LKW durch unser Land transportiert werden. Aber ich fürchte, dieser Katalog bleibt graue Theorie, sobald der Ernstfall eintritt. Wirklich, wir sollten mit allen Mitteln versuchen, uns von der Katastrophe freizukaufen.«
Diesmal reagierten die Männer nicht erregt und lärmend, eher beklommen. Nur der Beamte aus dem Verteidigungsministerium verwahrte sich nach wie vor gegen ein Geschäft mit den Terroristen. »Es geht doch«, sagte er, »in solchen Fällen vor allem darum, zu zeigen, daß der Staat nicht erpreßbar ist. Er darf es nicht sein, weil er sonst der Anarchie Tür und Tor öffnet. Diesmal allerdings werden wir noch nicht mal erpreßt, und da wollen Sie ein derartiges Angebot unterbreiten? Ich halte das für absurd!«
Schattner machte eine besänftigende Handbewegung und sagte: »Ich fürchte, Frau Fiering, Ihr Plan würde schon daran scheitern, daß wir zu den Tätern keinen Kontakt haben. Gut, man könnte unsere Offerte über Funk und Fernsehen ausstrahlen, damit die Burschen sich melden, aber das wäre in der Tat bedenklich, wäre vor der Öffentlichkeit wie eine Bankrotterklärung. Wenn wir doch nur ein einziges Mitglied der VITANOVA in unserer Gewalt
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