1988 VX (SM)
Mutter«, antwortete sie dann. »Ich weiß nur, daß ich ihn mit meinem Anblick nicht erschrecken darf.«
»Man könnte es vielleicht so machen: Er kommt, und dann bist du nicht da, weil du ganz plötzlich wegfahren mußtest. Zur Beerdigung einer Tante.«
»Und wer sagt ihm das? Etwa du, die Schwester der Verstorbenen? Oder Vater, der Bruder?«
»Wir waren hier unabkömmlich, und einer aus der Familie mußte hin.«
Marianne antwortete nicht.
»Wann kommt er denn?« fragte die Mutter.
»In zwei Wochen.«
»Und wie lange will er in Deutschland bleiben?«
»Er fährt erst mal nach Spanien zu Verwandten, und dann macht er für acht Tage einen Abstecher hierher.«
»Wir haben also noch ein bißchen Zeit.«
»Ja, und ich werde alles überdenken. Aber jetzt muß ich nach Wasloh! Kann Joseph mich fahren, oder braucht Vater ihn?«
»Fahr nur! Joseph ist dann ja in einer Viertelstunde zurück.«
Marianne nahm ihren Brief vom Tisch und ging. Auch die Mutter verließ die Terrasse, begab sich ins Obergeschoß und trat in das Arbeitszimmer ihres Mannes. Sie zog einen Stuhl heran, setzte sich zu ihm.
»Marianne hat Post aus Chile«, sagte sie. »Alejandro hat sein Examen bestanden, und seine Eltern haben ihm eine Europareise geschenkt. In vierzehn Tagen fliegt er nach Spanien, und von dort macht er einen Abstecher zu uns.«
»O mein Gott!« Frank Golombek legte den Kugelschreiber aus der Hand und schob die vor ihm liegenden Papiere beiseite. »Das darf nicht passieren! Ein Besuch bei uns darf einfach nicht stattfinden. Wir müssen etwas tun! Wo ist Marianne jetzt?«
»Sie läßt sich nach Wasloh fahren.«
»Ist sie schon aus dem Haus? Ich meine: Können wir ungestört reden?«
Katharina Golombek stand auf, trat ans Fenster. »Der Wagen fährt grad los.«
»Was sagt sie selbst denn dazu?«
»Ich hab’ sie selten so traurig und so hilflos erlebt. Ich machte den Vorschlag, dem Jungen nach seiner Ankunft zu sagen, sie habe zu einer Beerdigung fahren müssen.«
»Für sie wäre es sicher besser, wenn die Lüge von der anderen Seite käme.«
»Wie meinst du das?« Katharina setzte sich wieder.
»Na, zum Beispiel, daß einer von uns Alejandro verständigt und er ihr dann schreibt, seine Reise habe sich zerschlagen, er fahre nach New York statt nach Europa oder könne überhaupt nicht reisen, weil ihm sonst ein verlokkender Posten verlorenginge. Irgend so was. Ich telefoniere mit ihm und sage ihm, wie es um Marianne steht. Wenn wir eine Beerdigung erfinden, wird er womöglich warten wollen, bis sie zurück ist. Oder wie schätzt du die Beziehung der beiden zueinander ein?«
»Nach allem, was sie uns erzählt hat, sind sie sich sehr nahe gekommen, soweit das in Briefen möglich ist.«
Frank Golombek verließ seinen Platz am Schreibtisch und begann, an den Bücherregalen auf und ab zu gehen.
»Da ist manches möglich«, antwortete er. »Auch mit geschriebenen Worten läßt sich ein festes Band knüpfen. Und wenn die beiden Partner Phantasie haben, kann sogar Erotik ins Spiel kommen.« Er blieb stehen, kehrte dann zum Schreibtisch zurück, trat dicht vor seine Frau hin. »Du, ich habe Angst um Marianne, denn natürlich geht es nicht nur um dieses Treffen mit Alejandro. Vielleicht sollte ich nicht mit dem Jungen telefonieren, sondern kurz entschlossen rüberfliegen.«
»Was? Ganz nach Chile?«
»Ja. Marianne hat viele innere Werte, aber das Problem bei einer Begegnung ist die Chronologie. Bevor es zum Entdecken dieser Werte überhaupt kommen kann, sorgt Mariannes Behinderung dafür, daß der Betrachter gar nicht den Wunsch hat, sie näher kennenzulernen. Und sie weiß das. Darum schon sehr früh ihre Flucht in Brieffreundschaften. Wirklich, wir dürfen nicht um die Dinge herumreden. Es ist nun mal so: Männeraugen sind unbarmherzig, und deshalb fliege ich nach Chile, spreche mit Alejandro, weihe ihn ein. Er hat auf dem Foto ihr schönes Gesicht gesehen, hat durch die Briefe ihren Geist und vielleicht auch ihre Seele kennengelernt, und darin liegt eine ganz kleine Chance. Ich fahre also zu ihm und sage ihm die Wahrheit. Wenn Männeraugen unbarmherzig sind, müssen Männerherzen es nicht unbedingt auch sein.«
»Aber um was willst du ihn denn bitten?«
»Um gar nichts.«
»Willst du ihn … kaufen?«
»Nein, es ist mehr ein Appell. Ich erzähle ihm von Marianne. Alles. Kleine und große Geschichten. Daß sie Humor hat, daß sie reitet, gerne liest, Reisen macht. Wie sie mit unseren Tieren umgeht. Ich zeige ihm das Foto vom letzten Sommer.
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