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1988 VX (SM)

1988 VX (SM)

Titel: 1988 VX (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Marianne vorsichtig unter die Hand. Dann stieg er wieder ein, winkte ihr noch einmal zu und wendete.
Marianne kam an den Tisch zurück. Die Mutter nahm ihr die Post ab, legte die Zeitungen beiseite, auch die Reklamesendungen, zog dann einen blaßblauen Brief hervor. »Na, da ist er ja endlich!«
Marianne beugte sich hinunter, nahm den Brief und lief damit ins Haus.
Katharina Golombek blieb am Tisch sitzen, trank ihren Kaffee und sah die restliche Post durch. Ein Brief war für sie, drei waren für ihren Mann, und von diesen dreien trug einer den Absender »Der Bundesminister für Verteidigung«.
Er kämpft, dachte sie, also nicht nur auf seinen Strohdiemen, sondern auch an seinem Schreibtisch. Sie wog den Brief in der Hand. In dem DIN-A4-Umschlag steckte mindestens ein halbes Dutzend Blätter. Sie legte die Sendung beiseite und dachte: Was mach’ ich, wenn er mir das alles vorlesen will?
Sie öffnete den Brief, der für sie bestimmt war, und las. Ihre Freundin, Julia Fehrenkamp, lud mal wieder zu einem Bridge-Abend ein. Auf drei weiteren eng beschriebenen Seiten erfuhr sie, was die Fehrenkamps während ihrer Urlaubsreise nach Korfu erlebt hatten.
Sie steckte die Blätter wieder in den Umschlag und wollte nach einer der Zeitungen greifen, da kam Marianne zurück.
»Kind, was ist? Du bist ja ganz blaß!«
Marianne setzte sich, legte den Luftpostbrief auf den Tisch, sagte aber nichts.
»Ist er durchgefallen? Das wäre doch kein …«
»Er hat seine Prüfung bestanden, sogar mit Auszeichnung.«
»Na, wunderbar! Dann freu dich doch!«
»Seine Eltern haben ihm zum Examen ein Geschenk gemacht.«
»Ist es der Trakehner, den er sich so sehr gewünscht hat?«
Marianne schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, und dann kam ganz leise, fast tonlos: »Es ist eine Europareise.«
Die Mutter stand auf, trat zu Marianne, beugte sich hinab und umarmte sie. »Hab keine Angst!« sagte sie schließlich, ging dann zurück zu ihrem Platz, setzte sich wieder. »Wir schaffen es«, begann sie noch einmal, »daß trotzdem für euch beide eine Freude daraus wird.«
Marianne blickte auf. »Es ist nicht zu schaffen, Mutter. Du weißt doch: Frauen können rothaarig sein, blond oder dunkel; katholisch oder protestantisch oder ohne Konfession; können schlank sein oder mollig oder sogar fürchterlich dick, schlechte Zähne haben und schlechte Manieren; ja, sie dürfen sogar maßlos dumm sein und finden dennoch einen Mann. Aber verwachsen, das dürfen sie nicht sein! Vielleicht ein kleines bißchen, so daß man’s nicht gleich sieht, aber wenn sie keine Arme haben oder keine Beine, dann gibt es für sie keinen Mann, es sei denn, er ist genauso geschlagen wie sie. Nur, dann ist das Ganze keine Liebe, sondern ein Arrangement unter Leidensgenossen. Du brauchst dich doch bloß umzusehen: Wann findest du schon mal ein Paar, das aus einem gesunden Mann besteht und aus einer Frau, die von Geburt an keine Arme hat? Es ist was anderes, wenn es durch einen Unfall passiert ist oder im Krieg, aber bei mir …«, sie wedelte mit ihren kleinen Händen, und es sah tatsächlich wie Flügelschlagen aus, »kriegt jeder Mann das Grausen. Auch Alejandro. Klar, er wird nett sein zu mir, nimmt mich vielleicht sogar mit, wenn er sich diese oder jene Stadt ansehen will, aber mehr wird nicht sein.«
»Kind, laß uns jetzt mal vorausdenken und nicht speziell an Alejandro. Frauen wie du können ganz gesunde Kinder zur Welt bringen, und wenn die Zuneigung schon mal da ist …«, sie ließ den Satz hängen. Mariannes Blick war zu abweisend.
»Mutter, es gibt keinen Mann, der in der Frau, auf die er zugeht, zuallererst das Gefäß sieht, aus dem seine Kinder kommen sollen, und falls wider Erwarten doch, sucht er sich bestimmt keins ohne Henkel.«
»Du bist so drastisch!«
»Ich bin nur realistisch.«
»Möchtest du lieber, daß er nicht kommt?«
Marianne antwortete nicht gleich. Sie griff nach den Zigaretten, die auf dem Tisch lagen. Für die Mutter war es ein gewohntes Bild, doch ein Fremder hätte die Szene wie eine kleine Sensation aufgenommen: das Schieben und Drehen der Schultern, das Herausfingern der Zigarette aus der Schachtel, das Aufnehmen und Bedienen des Feuerzeugs. Es waren Bewegungen von geradezu beklemmender Artistik. Und dazu das Tempo. Es dauerte nur Sekunden, bis die Zigarette brannte. Schließlich das Rauchen selbst; wenn Marianne nicht gerade einen Zug machte, schienen die kleinen grauen Schwaden aus der rechten Schulter aufzusteigen.
»Ich weiß nicht,

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